Landgericht Aschaffenburg:Im Schlaf überwältigt

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Mord von Mespelbrunn: Wegen eines Verdachts stürmen Polizisten nachts eine Wohnung und überwältigen den Bewohner. Der ist geschockt und zieht vor Gericht - mit Erfolg.

Olaf Przybilla

Die Nacht zum 11. Januar 2009 wird Gerhard Ehser nicht mehr vergessen. Er hatte sich längst zum Schlafen gelegt, als er um 2.30 Uhr einen dumpfen Schlag im Gesicht spürte. Ehser wurde bewusstlos. Als er aufwachte, fand er sich auf dem Boden seiner Wohnung wieder, die Hände auf dem Rücken zusammen gebunden. Arretiert wurde er von einem Mann mit Nachtsichtgerät. Der fragte ihn, wo Alexander R. sei, der Mann aus dem Spessart, der im Sommer zuvor eine junge Frau erstochen haben soll.

SEK bei der Arbeit: 2009 wurde eine Wohnung im Spessart gestürmt. (Foto: Foto: dpa)

Wie lange das so ging, weiß Ehser nicht zu sagen. Ihm kam es so vor, als sei er länger als eine halbe Stunde am Boden gelegen, frierend und mit blutender Nase.

Ein Jahr danach hat ihm zwar noch keiner die Tür ersetzt, die bei dem Einsatz eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) in seiner Wohnung zu Bruch ging. Aber wenigstens hält er nun ein Urteil des Landgerichts Aschaffenburg in der Hand. Dieses besagt, dass der SEK-Einsatz im Spessart nicht anderes als rechtswidrig war.

Ehser, 50, wohnt in Leidersbach, einem Dorf im Spessart. Keine zehn Kilometer entfernt liegt das Schloss Mespelbrunn, wo R. eine Mutter von drei Kindern auf offener Straße getötet haben soll, aus verschmähter Liebe.

Diesen R. kenne er so, wie man sich kenne, wenn man in benachbarten Dörfern wohne, sagt Ehser. Nur einmal habe er Alexander R. überhaupt wahrgenommen. Das war bei den Theaterproben der Festspielgemeinschaft, die alle fünf Jahre das "Wirtshaus im Spessart" nachspielt. Ehser gab einen Soldaten, R. war Räuber. Allerdings nur drei von 29 Aufführungen lang. Dann erlitt R. eine Verletzung des Innenohrs, durch einen Knall aus einer Räuberpistole. Mit R. habe er "im Leben kaum ein Wort gewechselt", sagt Ehser.

Was das SEK bewogen hat, die Wohnung von Ehser zu stürmen, bleibt auch dessen Anwalt Werner Schuck ein Rätsel. Es soll ein anonymer Anrufer gewesen sein, der die Ermittler auf die Spur gesetzt hatte. Im Januar 2009 war der flüchtige R. in den Spessart zurückgekehrt, eine Großfahndung wurde ausgelöst.

Da R. an mehreren Tagen an verschiedenen Orten gesehen worden sein soll, vermuteten die Ermittler einen Helfer, der dem mutmaßlichen Mörder bei minus 16 Grad Außentemperatur eine Bleibe im Spessart biete. Als Ehser am Tag vor dem Sturm nach Hause kam, fielen ihm in der Nähe seiner Wohnung mehrere Beamte auf. "Aber ich wäre ja nie auf die Idee gekommen, dass die mich meinen", sagt Ehser.

Das Landgericht Aschaffenburg hat den Einsatz im Spessart für rechtswidrig erklärt - in zweierlei Hinsicht. Bereits die Durchsuchungsanordnung, ausgestellt vom Amtsgericht Aschaffenburg, sei rechtswidrig gewesen. Für den Sturm einer Wohnung mitten in der Nacht - ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre - hätten Gründe vorliegen müssen, die keine Verschiebung des Zugriffs zulassen. Diese lagen nicht vor.

Ebenso für rechtswidrig erklären die Richter die Art des Eingriffs. Allein die Vermutung, ein Beschuldigter befinde sich in einer Wohnung, rechtfertige beileibe keinen SEK-Einsatz. In der Akte finde sich nur der Hinweis, es bestehe ein Verdacht. "Diese Ausführungen des Bereitschaftsrichters werden durch keinerlei Tatsachen gestützt", urteilen die Richter.

Ehser fordert nun Schadensersatz und Schmerzensgeld. Drei Wochen lang war er nach dem SEK-Einsatz krankgeschrieben. In seinem Bett zu schlafen, traute er sich viele Nächte lange nicht mehr.

Wenn es der Zustand von R. zulässt, soll der Prozess gegen ihn an diesem Donnerstag beginnen. Vor einer Woche hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ein halbes Jahr nach dem Sturm in Leidersbach war R. bei einer Routinekontrolle im elsässischen Colmar gefasst worden.

© SZ vom 3.5.2010/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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