Kunst als Therapie:Gedichte einer Weggesperrten

Kunst als Therapie: Nina Hagen und Ilona Haslbauer verbindet mehr als der Kampf gegen Paragraf 63 im Strafgesetzbuch, der die Einweisung in die Psychiatrie ermöglicht.

Nina Hagen und Ilona Haslbauer verbindet mehr als der Kampf gegen Paragraf 63 im Strafgesetzbuch, der die Einweisung in die Psychiatrie ermöglicht.

(Foto: Nicole Steffen)

Sieben Jahre saß sie in der Psychiatrie, jetzt steht sie auf der Bühne: Ilona Haslbauer schreibt über ihren "Friedhof der atmenden Toten", um sich selbst zu therapieren. Für Nina Hagen ist sie eine der begabtesten Lyrikerinnen Deutschlands.

Von Dietrich Mittler

Das rote Teufelchen reißt die Arme so weit auseinander, als wollte es gleich die ganze Welt umarmen. Ilona Haslbauer hat es gestrickt, als ihr in der Psychiatrie noch hohe Mauern den Blick nach draußen verstellten. Fast sieben Jahre lang war sie ununterbrochen in den Kliniken Taufkirchen an der Vils und Straubing untergebracht. Dann kam im Juli der Beschluss des Landgerichts Landshut: Die Unterbringung in der Psychiatrie sowie die 2007 verhängte Freiheitsstrafe von vier Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung wird zur Bewährung aufgehoben. "Das war meine Rettung", sagt Haslbauer heute, schränkt aber im selben Atemzug ein: "Wenn ich nicht einen so guten Anwalt gehabt hätte, säße ich noch immer fest."

Am 14. August durfte sie schließlich die forensische Klinik für psychisch kranke Gesetzesbrecher in Taufkirchen verlassen: Für ihre Unterstützer war dies das Ende eines Albtraums, der damit begonnen hatte, dass Ilona Haslbauer vom Landgericht Regensburg - gestützt auf zwei Gutachten - als wahnhaft und damit schuldunfähig in die Psychiatrie eingewiesen worden war. Einige Zeugnisse der langen Zeit hinter Mauern sind erhalten geblieben. Nicht nur die Strickereien und Origami-Figuren, sondern auch die Gedichte, die im Maßregelvollzug entstanden sind.

Auf der Bühne mit Nina Hagen

An diesem Montagabend tritt die 58-Jährige gemeinsam mit Nina Hagen im Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm auf die Bühne, um die inzwischen auf einer CD vertonten "Gedichte aus der Zwangspsychiatrie" vorzutragen. Das Bühnenbild: eine Arbeiterkneipe aus der Originalinszenierung der Dreigroschenoper. Diese Kulisse hat die Künstlerin Nina Hagen für ihren "interaktiven Brecht-Lieder-zur-Klampfe-Abend" gewählt. Doch das Publikum soll, wie Nina Hagen es angekündigt hat, "nicht nur wieder neugierig werden auf Bertolt Brecht", sondern auch auf Ilona Haslbauer.

"Sie ist eine der begabtesten Lyrikerinnen Deutschlands", hatte Hagen Mitte Juli dieses Jahres in Landshut ins Mikrofon gerufen. Die roten Backsteinwände des Landgerichts Landshut warfen diese Worte als Echo zurück auf die Demonstranten, die vor dem Gebäudekomplex Ilona Haslbauers Freilassung forderten.

Die Forensik: Ein "Friedhof der atmenden Toten"

Es sind düstere Gedichte, die den Zuschauern des Berliner Ensembles nun zugemutet werden, die Verse einer Weggesperrten: "Friedhof der atmenden Toten", so beschreibt Haslbauer die Lebensbedingungen in der Forensik. "Packt die Hexe, die eine Gefahr für die Allgemeinheit war", heißt es in einem Gedicht, in dem sie ihrer Wut und Verzweiflung über Zwangsfixierungen Ausdruck verleiht. Der Refrain: "Ohnmächtig hörte ich ihr Schrei'n, es ging mir durch Mark und Bein."

Nina Hagen, die sich seit Längerem für Psychiatriepatienten einsetzt, erinnert sich gut an ihren ersten Kontakt mit Ilona Haslbauer: "Im vergangenen Sommer haben wir angefangen zu telefonieren, ich war schockiert über das, was sie mir erzählte." Betroffen über Haslbauers Verlautbarungen ist man auch bei den Kliniken des Bezirks Oberbayern (kbo), zu denen die Taufkirchner Einrichtung gehört. Das Klinikum werde "die Sachverhalte prüfen", sagte ein Sprecher des kbo-Isar-Amper-Klinikums. Und das wird Arbeit bedeuten: Momentan arbeitet Haslbauer an einem Theaterstück, das im Februar von Regensburger Studenten uraufgeführt werden soll. Sie will es in Anlehnung an ihre Erfahrungen und an die biblische Offenbarung des Johannes "Pharmageddon" nennen.

Das Schreiben setzt Haslbauer zu. "Wenn ich eine Szene auf Papier habe, bin ich erst einmal wie gelähmt", sagt sie. Regisseur Kurt Raster durchlebt derzeit ebenfalls Grenzerfahrungen. Was er lese, schnüre ihm die Kehle zu, ließ er Haslbauer wissen. Die antwortete: "Das ist noch gar nicht das Härteste." Und es ist die Frage, ob sich solche Szenen umsetzen lassen: Eine Frau liegt auf dem Boden, drei Schauspieler in der Rolle der Pfleger halten sie links und rechts am Oberkörper, zwei Schauspielerinnen spreizen jeweils ein Knie der am Boden liegenden Frau auseinander, die dritte untersucht mit dem Finger den Intimbereich nach versteckten Briefmarken. Mit Sicherheit wird der jungen Schauspielgruppe diese Szene leichter fallen: Eine Frau, im Bett liegend, am Kopfende ist eine Kamera angebracht. Die wird immer wieder "klack" machen. Die Szene spielt in der Nacht, und die Frau im Bett wird jedesmal aufwachen. Vielleicht wird sie dann laut Textbuch so etwas sagen wie: "Entzug von Tiefschlaf ist Folter." Aber die Schauspieler, die Pflegekräfte darstellen, werden das unbeeindruckt zur Kenntnis nehmen.

Nachts schleicht sich die Vergangenheit an

Momentan rasen die Ereignisse an Ilona Haslbauer vorbei wie im Rausch: Am Donnerstag kam sie von einem Seminar aus Frankreich zurück. Am Tag darauf demonstrierte sie in Bayreuth gegen "unhaltbare Zustände in der Psychiatrie". Dort traf sie auch Gustl Mollath, Deutschlands bekanntesten Psychiatriepatienten. Mollath war ebenfalls jahrelang in der Forensik festgehalten worden, und er kämpft hartnäckig um seine Rehabilitierung. Sie steht Mollath darin in nichts nach: Dem Oberlandesgericht München liegt eine Rechtsbeschwerde vor, die ihr Anwalt Adam Ahmed verfasst hat. "Meine Mandantin wurde 25 Stunden lang verfassungs- und menschenrechtswidrig fixiert", sagt Ahmed.

Doch bei all der Kraft, mit der sich Haslbauer zur Wehr setzt, nachts schleicht sich die Vergangenheit an. Oft träume sie, dass sie durch einen Tunnel gehe, der enger und enger werde. "Am Ende versuche ich, durch ein Loch zu kriechen. Das wird ebenfalls enger, und ich merke: Jetzt werde ich zerquetscht." An der Stelle wache sie auf.

Bilder wie diese stehen für den Albtraum, der hinter Ilona Haslbauer liegt: 2005, als sie sich vor dem Amtsgericht Regensburg wegen vorsätzlicher Körperverletzung verantworten musste, weil sie laut Anklage eine frühere Nachbarin mit einem Einkaufswagen gerammt habe, da war von einer Psychiatrieunterbringung gar nicht die Rede. Angesichts zurückliegender Vorstrafen wegen Körperverletzung oder Beleidigung verurteilte das Amtsgericht die Angeklagte dieses Mal gleich zu sechs Monaten Haft.

Sieben Jahre Psychiatrie statt sechs Monaten Haft

Dagegen legte ihr früherer Anwalt Berufung ein. Haslbauer bestand darauf, der Vorwurf entspreche nicht den Tatsachen. Das wurde ihr zum Verhängnis, zumal sie sich auf ein psychiatrisches und ein psychologisches Gutachten einließ. "Der Hauptgutachter diagnostizierte bei meiner Mandantin, dass sie in einem Wahnsystem lebe und durch eine zu aggressivem Handeln verleitende Impulsivität allgemeingefährlich sei", sagt Haslbauers jetziger Anwalt Adam Ahmed. Bezeichnend sei jedoch, dass Ilona Haslbauers Zweifel an der Ausgewogenheit des Gutachtens ebenfalls als wahnhaft ausgelegt wurden. So seien aus sechs Monaten Haft sieben Jahre Psychiatrie geworden.

Haslbauers Misstrauen setzte sich in der Forensik fort. Demonstrativ, so erinnert sie sich, stellte sie sich schlafend, wenn Ärzte ihr Zimmer betraten, las Zeitung oder schwieg beharrlich. Die Folge war, dass es zwar weitere Gutachten gab, aber jeder der Sachverständigen konnte nur auf vorangegangene Dossiers aufbauen. Am Schluss, so sagt Ahmed, hieß es stets, dass weitere rechtswidrige, im Wahn begangene Delikte zu erwarten seien. Dem hätten sich die Richter nach jeder Anhörung angeschlossen. Was hingegen Haslbauer als Verstoß gegen ihre Rechte anprangerte - etwa der Druck, der aufgebaut worden sei, weil sie keine Psychopharmaka nehmen wolle -, fand keine Berücksichtigung. "Es war ein Teufelskreis", sagt sie.

Hilfsbereite Menschen? "Eine ganz neue Erfahrung"

Erst der letzte Gutachter bekam, wie Ahmed sagt, Zweifel daran, ob sich mit solchen Methoden tatsächlich eine fortbestehende Gefahr für die Allgemeinheit feststellen lasse. Das Landgericht Landshut teilte die Auffassung des Sachverständigen, dass Ilona Haslbauer mit weitaus milderen Mitteln als der Forensik therapeutisch begleitet werden könne. "Die Kammer", so sagt Ahmed, "geht davon aus, dass meine Mandantin auch außerhalb der Forensik keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird."

Das rote Teufelchen mit den ausgebreiteten Armen hat Ilona Haslbauer verschenkt. Wieder in Freiheit, will sie selbst der Welt mit ausgebreiteten Armen begegnen. Dank Nina Hagens Engagement hat sie in Passau eine bezahlbare Wohnung gefunden. "Menschen, die hilfsbereit und nett sind, das ist für mich eine ganz neue Erfahrung", sagt sie. Und das tue "einfach nur gut".

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