Gesundheit:Demenz wird oft Jahre zu spät erkannt

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Laut einem Forschungsprojekt belastet die zunehmende Ausbreitung der Krankheit auch die Angehörigen schwer

Von Dietrich Mittler, Dachau

Einen Großteil ihres Lebens hat Magdalena Kugler aus Dachau ihr nahestehende Menschen gepflegt: unter anderem 17 Jahre lang ihren am Korsakow-Syndrom erkrankten Vater, der eines Tages seine eigene Frau nicht mehr erkannte. Dann ihren Schwager. Und nun, inzwischen 72 Jahre alt, muss sich Magdalena Kugler voll und ganz ihrem Mann widmen: "Er fängt an, dement zu werden", sagt sie. Werner Kugler, der im Leben immer wusste, wo es lang geht, "fragt manchmal 26-mal dasselbe, obwohl ich ihm das längst beantwortet habe", erzählt seine Frau. "Eine schwierige Situation", sagt sie - für beide, denn ihr Mann merke sehr wohl, dass sich in seinem Kopf etwas verändere. "Manchmal, wenn wir unterwegs sind und er unsicher wird, dann nimmt er meine Hand", beschreibt sie die Szenen ihres Alltags.

Trotz alledem: Kugler hat es sich am späten Dienstagnachmittag nicht nehmen lassen, ins Dachauer Gesundheitsamt zu eilen, wo die Zwischenergebnisse des sogenannten Bayerischen Demenz-Surveys bekannt gegeben wurden. Dabei handelt es sich um ein Forschungsprojekt, das der Landtag 2014 auf Initiative der CSU-Abgeordneten Bernhard Seidenath und Jürgen Baumgärtner angestoßen hat. Um verlässliche Zahlen zur Versorgung der Betroffenen, aber auch über die Lebensumstände der ebenfalls belasteten Familien zu bekommen, wurden in den Regionen Dachau, Kronach und Erlangen unter anderem Daten zur Situation pflegender Angehöriger erfasst, die Diagnosestellung bei Demenz untersucht. Das war dringend nötig, sagt Seidenath, "denn aktuell leben in Bayern etwa 220 000 Menschen mit Demenz". Bis zum Jahr 2025 werden es voraussichtlich 270 000 sein - Tendenz steigend.

Noch liegen nicht alle Ergebnisse vor, die will die Forschungsgruppe der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vorlegen, wenn auch die Nachbefragung aller Teilnehmer erfolgt und ausgewertet ist. Doch laut Seidenath lasse bereits der aktuelle Datenbestand Schlüsse zu, die für Bayerns Gesundheitspolitik relevant sind: "Demenz wird hier oft Jahre zu spät diagnostiziert." Hinzu komme, dass die "vielfältigen Hilfsangebote für Demenzkranke und ihre Angehörigen noch nicht überall bekannt" seien. Und auch das gebe ihm zu denken: Mehr als ein Drittel der pflegenden Angehörigen in Bayern sei erwerbstätig. Sieben Prozent dieser Angehörigen hätten aber schließlich Pflege und Berufstätigkeit nicht mehr vereinbaren können. Sie hätten deshalb ihre Berufstätigkeit aufgegeben. "Da müssen wir noch was tun", sagte Seidenath. Auch das sei alarmierend: Das Durchschnittsalter der pflegenden Angehörigen in Bayern beträgt 62 Jahre. Oft ist die Belastung für sie so groß, dass sie selbst erkranken.

"Demenz ist die neue Geisel der Menschheit", so Seidenath . Peter Kolominsky-Rabas, der Projektleiter des Demenz-Surveys, belegt diese Aussage. "In den gut zehn Minuten, in denen ich hier rede, gibt es weltweit circa 200 Neuerkrankungen an Demenz", sagt er. Was Bayern betreffe: Jährlich müsse man hier von 47 700 Neuerkrankungen ausgehen, gut 70 Prozent der Erkrankten seien Frauen. Deutschlandweit erkrankten jährlich 300 000 Menschen neu, "die Größe einer Großstadt". Das werfe nicht nur für Betroffene und Angehörige Probleme auf, dies sei auch volkswirtschaftlich eine Belastung - allein deshalb, weil die Pflege je nach Umfeld 31 000 bis 47 000 Euro pro Jahr und Patient koste. Hier trügen die Angehörigen mit bis zu 67 Prozent die Hauptlast.

Das Forschungsprojekt wird noch bis Ende 2017 vom Gesundheitsministerium gefördert - mit einem Gesamtbetrag in Höhe von mehr als 550 000 Euro. Die drei Forschungsstandorte Dachau, Kronach und Erlangen wurden nicht ohne Grund gewählt: Dachau ist der am stärksten wachsende Landkreis Bayerns, Kronach hingegen leidet unter einer ungünstigen demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung, und Erlangen - immerhin wirtschaftlich prosperierend - liegt bezüglich Bevölkerungsentwicklung im Mittelfeld.

"Wir werden aufgrund der durch den Survey gewonnenen Erkenntnisse neue Handlungsstrategien erarbeiten", verspricht Gesundheitsministerin Melanie Huml. Eine Grippe hielt sie davon ab, nach Dachau zu kommen. Die in bislang 247 Interviews erhobenen Daten dürften sie aber interessieren - etwa, wie problematisch die Versorgungslage in Kronach ist. Cornelia Thron, Caritas-Geschäftsführerin im Kreis Kronach, sagt: Der Fach- und Hausärztemangel verschlimmere die Situation der Betroffenen zusätzlich. "Wir haben in unserem Kreis nur einen Neurologen, bei dem Demenzerkrankte - wenn überhaupt - oft erst nach einem halben Jahr einen Termin bekommen."

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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