Gebärdensprache:Vermittler zwischen den Welten

Lesezeit: 4 min

Die Hochschule in Landshut bietet die bayernweit erste akademische Ausbildung für Dolmetscher in Gebärdensprache an. Hörende und Nichthörende sind gleichermaßen auf sie angewiesen

Von Dietrich Mittler, München

Der 19-jährige Thomas Zdych ist ein Wanderer zwischen den Welten. Die eine Welt fühlt sich warm an, empathisch, impulsiv. Aber in dieser Welt, die er von seinen Eltern kennt, gibt es keinen Laut. Es ist die Welt der absoluten Stille, die der Gehörlosen. Thomas Zdych jedoch kann hören, und somit ist er auch Teil der anderen Welt, die des gesprochenen Wortes. Bevor er selbst auch nur einen Satz sprechen konnte, beherrschte er bereits die Gebärdensprache - seine Muttersprache, wie er sagt. "Im Kindergarten habe ich quasi die anderen Kinder mit den Händen zugetextet", erzählt er. Als der junge Münchner davon hörte, dass die Hochschule Landshut nun den Bachelor-Studiengang Gebärdensprachdolmetschen anbietet, war er sofort Feuer und Flamme.

"Meine Eltern sind sehr stolz", sagt er, "ich berichte ihnen jeden Tag, was ich Neues gelernt habe." Seit Oktober ist der 19-Jährige auf der Hochschule eingeschrieben. Nun wurde der Studiengang offiziell eröffnet - im Raum mit der vielsagenden Nummer 007. Aus den Festreden klingt denn auch heraus, dass sich die Studierenden hier auf ein Abenteuer einlassen. Es gehe darum, Barrieren wegzuräumen, den Brückenschlag zwischen Sprachen und Kulturen zu wagen, alte Sichtweisen zu überwinden. Und das fällt schwer, insbesondere den Hörenden. Als sich etwa Professor Clemens Dannenbeck feierlich an einen Konzertflügel setzt, um die Komposition 4'33 von John Cage aufzuführen, da versinkt der Saal vier Minuten und 33 Sekunden lang in absolute Stille - ein Schweigestück in drei Sätzen. Die geladene Landshuter Gehörlosen-Community jubiliert, reißt die Arme hoch und lässt die Finger flirren, ein Ausdruck tosenden Applauses.

Noch größer wird die Verwunderung dann, als eine Studentin auf die Bühne tritt und - ohne einen Ton zu sagen - den nächsten Redner vorstellt. Der erscheint, seine Hände tanzen jovial in der Luft - und wieder bleibt es still, bis endlich eine Frauenstimme seine Botschaft in Laute fasst: "Hallo in die Runde, ich freue mich, heute hier sein zu können." Dann beginnt Markus Beetz vom Landesverband der Gehörlosen in Bayern zu erzählen: Neben Hamburg, Berlin, Zwickau und Magdeburg sei Landshut nun die fünfte Hochschule, die einen solchen Studiengang anbiete. Und der werde dringend benötigt. Gut 20 000 Gebärdensprachnutzer lebten in Süddeutschland, in Bayern gebe es aber nur 100 Gebärdensprachdolmetscher.

Auch in der Gebärdensprache gibt es Dialekte. Student Thomas Zdych demonstriert das am Beispiel des Wortes "Wurst" hier in der Münchner Variante. (Foto: Dietrich Mittler)

Irmgard Badura, die Behindertenbeauftragte der Staatsregierung, die - wie auch der CSU-Sozialexperte Joachim Unterländer - viel für das Gelingen des Studiengangs getan hat, erfüllt das erreichte Ziel mit Stolz: "Das Landshuter Projekt ist nicht nur einzigartig in Süddeutschland, es ist auch eines der größten dieser Art im Bundesgebiet." Es sei aber noch ein weiter Weg "bis hin zu einer richtig guten Teilnahme von gehörlosen Menschen in Bayern".

Ohne Gebärdensprachdolmetscher sind gehörlose aber auch stark hörbehinderte Menschen in der Tat von vielen Lebensbereichen ausgeschlossen. Der Landshuter Johannes Weingart, nun 68 Jahre alt, kann sich noch gut an die Zeit erinnern, in der es gar keine Gebärdensprachdolmetscher gab. "Das war mit vielen Hindernissen verbunden", teilt er mit, "ich habe vieles nicht verstanden, konnte mich nicht mitteilen. Es gab einfach keine Hilfsmittel, keine Unterstützung." Weingart brachte es "mit viel Glück", wie er sagt, zum Werkzeugmacher. Auch das Bergklettern ließ er sich nicht nehmen - immer im Verbund mit anderen Gehörlosen. "Da kann man schlecht über Gebärden kommunizieren, wenn man im Fels hängt", lässt er wissen.

Sein Schmunzeln lässt erahnen, dass sich in solchen Situationen auch ein Gebärdensprachdolmetscher schwer täte. Uta Benner, die Leiterin des neuen Studiengangs, nennt im Stakkato nur einige der Schauplätze, auf die sich die angehenden Dolmetscher jedoch einrichten müssen: Fabrikhallen, Konferenzen, Tagungen, OP-Vorgespräche - "teilweise auch mit Anwesenheit im Operationssaal". Gebärdensprachdolmetscher werden zudem bei Gerichtsverhandlungen und Vernehmungen im Polizeirevier gebraucht. Nicht minder aber auch bei politischen Veranstaltungen, bei Gottesdiensten und Seelsorge-Terminen. "Alles herausfordernd, das ist aber auch das Schöne an diesem Beruf", sagt sie.

So sieht das Wort "Wurst" in der norddeutschen Variante der Gebärdensprache aus. (Foto: Dietrich Mittler)

In der kurzen Zeit, die er nun dabei ist, hat auch Thomas Zdych gemerkt, dass es noch viel zu lernen gibt. Und das, obwohl er die Gebärdensprache von Kindesbeinen an nutzt. "Das ist etwas anderes, als sich mit den gehörlosen Eltern zu unterhalten", sagt er. Im Studium werden auch abstrakte Begriffe fallen wie etwa das Schlagwort "Kultur der Gehörlosen". Vom Gefühl her, weiß der 19-Jährige sehr wohl, was hier gemeint ist. Aber das in Worte fassen? Dreimal setzt er an. "Pow, das sind so viele Facetten", sagt er dann. Aber am Ende der sieben vorgesehenen Semester werden die derzeit 20 Studierenden auch darauf eine wissenschaftlich fundierte Antwort haben.

Überhaupt sollen sie in einem Studium Generale in viele Lebensbereiche eindringen. "Wir Dolmetscher brauchen ein großes, umfangreiches Weltwissen", bringt es Christiane Schuller vom Berufsfachverband der Gebärdensprachdolmetscher und -dolmetscherinnen auf den Punkt. Das ist zu schaffen, ist sich Hochschulpräsident Karl Stoffel sicher. "Die Hochschule Landshut steht für lebenslanges interdisziplinäres Lernen", sagt er. Wissenschaftsstaatssekretär Bernd Sibler (CSU) ist angetan. "Eine Feststunde für die Inklusion in Bayern", sagt er.

Die meisten Teilnehmer des neuen Studiengangs sind - abgesehen von "den drei Quoten-Männern", wie es eine der Studentinnen ausdrückt - weiblich. Die 20-jährige Larissa Kim glaubt, das könne daran liegen, dass das Gebärdensprachdolmetschen noch "zu sehr mit sozialer Arbeit und so einem Helfersyndrom" gleichgesetzt werde. Und das schrecke offenbar Männer ab. Aber auch das werde sich ändern. Klar ist aber auch: Bei etlichen der jungen Leute sprach das Herz mit, als sie zur Gebärdensprache fanden. Die 21-jährige Michaela Meyer etwa formt ein Wort, das sie liebt. Ihre Hand fährt dazu mit zupackender Geste zum Kopf. Das ist die Gebärde für ihren gehörlosen Freund Simon, mit dem sie nun seit vier Jahren zusammen ist. "Er hat ziemlich viele Locken, und das ist dann einfach die Geste, dass die Hand die Locken umfasst", sagt sie.

© SZ vom 21.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: