Ganztagsbetreuung:Warum Bayern das Schlusslicht bleibt

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Schule bis zum Mittag: Sowohl an Grund- als auch an weiterführenden Schulen ist das die Regel, obwohl Ganztagesangebote dringend notwendig wären. (Foto: dpa)

Mangelhaft bis ungenügend: Der schleppende Ausbau der Ganztagsschulen stellt viele Eltern im Freistaat vor ein großes Problem. In manchen Gemeinden gerät der Ausbau der Ganztagsschulen gar zum lokalen Polittheater.

Von Anna Günther

Ein schriller Ton durchbricht die Stille. Hüpfend, rennend, schlurfend ziehen Grundschüler in den Nachmittag, in Grüppchen zu Fuß oder auf die wartenden Autos zustürmend. Nur eine wartet. Eine gefühlte Ewigkeit. Der Hof ist leer, die Lehrer sind längst weg. Als das ersehnte Auto auftaucht, ist die Laune der gestressten Mutter so mies wie die der Wartenden. Aber immerhin muss die Kleine an diesem Tag nicht drei Kilometer alleine nach Hause laufen und sich das Essen in die Mikrowelle schieben.

Noch vor einigen Jahren blieb berufstätigen Eltern wenig anderes übrig, als auf Selbständigkeit ihrer Kinder zu hoffen. Und sie auch mal bis zum Abend alleine zu lassen. Heute bieten die meisten Grund- und zahlreiche weiterführende Schulen Nachmittagsbetreuung oder Ganztagsklassen an. 1.337.300 Kinder und Jugendliche sitzen in Bayern jeden Tag in 4608 allgemeinbildenden Schulen über verzwickten Matheaufgaben oder studieren die Anatomie von Froschleichen. Die meisten davon gehen aber mittags nach Hause.

Trotz einer Offensive des Kultusministeriums ist Bayern im bundesweiten Vergleich Schlusslicht bei der Anzahl der Ganztagsschüler. Das geht aus einer Studie zum " Reformprojekt Ganztagsschule" hervor, die das Deutsche Jugendinstitut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt hat. Zehn Jahre, nachdem der massive Ausbau begann, bilanzieren die Gutachter und bemängeln fehlende Konzepte und Qualitätsstandards. Und dass die Richtlinien für die Ganztagsschulen von Bundesland zu Bundesland verschieden sind, kritisiert Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, gar als "konzeptionelles Vakuum".

Die Abkehr von Altbewährtem und der Aufbruch ins Ungewisse kann Ängste auslösen, ein Eingriff in die Rechte von Eltern ebenfalls. Welch kuriose Blüten das treiben kann, zeigt ein seit Monaten tobender Konflikt in Gröbenzell im Landkreis Fürstenfeldbruck. In dem Streit, der Eltern, Politiker und Lehrer in verschiedenen Konstellationen gegeneinander aufgebracht hat, geht es darum, ob für die Einführung von zwei gebundenen Ganztagsklassen an den drei örtlichen Grundschulen die Schulsprengel verändert werden sollen. Der Änderung würde die kleinste Schule insofern zum Opfer fallen, als sie zur Dependance einer anderen würde.

Dagegen liefen Eltern Sturm und initiierten ein Bürgerbegehren gegen die Änderung des Einzugsgebietes, der Bürgermeister und seine Verbündeten taten alle Einwände ab, die Atmosphäre ist noch immer aufgeheizt. Tatsächlich bleibt es nun wohl vorerst beim Status quo, was die Sprengel betrifft. Dafür wird im Herbst vermutlich auch nur eine Ganztagsklasse eingerichtet - womit für viele Kinder Plätze fehlen.

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Das Theater von Gröbenzell dürfte allerdings eine Ausnahme bilden. In der Regel geht die Einrichtung von Ganztagsklassen reibungsloser vonstatten. Das Kultusministerium bewilligte zum laufenden Schuljahr alle genehmigungsfähigen Anträge. Das zieht allerdings neue Probleme nach sich. Denn mit dem Placet kommt die Raumnot. Für die Ganztagsbetreuung brauchen Schulen zusätzliche Zimmer für Projektarbeit und Ruhephasen sowie eine Mensa für das Mittagessen. Klamme Kommunen können bei der Staatsregierung Fördermittel beantragen, 2011 gab das Finanzministerium 9,2 Millionen Euro für den Bau von Ganztagsschulen aus.

In Petershausen im Landkreis Dachau wollen Lehrer und Lokalpolitiker ganz sicher gehen: Zwei Jahre nehmen sie sich Zeit, um die Einführung der Ganztagsklasse an der örtlichen Grundschule vorzubereiten. Ohne solides pädagogisches Konzept und vernünftiges Raumangebot soll der Ganztagszweig 2014 nicht starten. Ein Fachbüro plant die energetische Sanierung und den Umbau des Schulhauses mit zusätzlichen Klassenzimmern, jahrgangsspezifischen Lernzonen, Lernwerkstatt, Begegnungsorten und Mensa.

Mancherorts dauert es sehr lange mit dem Ausbau der Ganztagsschulen, andernorts wird gestritten: Im Ergebnis schneidet der Freistaat schlecht ab. Nur jeder zehnte bayerische Schüler wird ganztägig unterrichtet. Bundesweit lernen 28 Prozent aller Kinder auch nachmittags. Und im Freistaat Sachsen sogar fast 100 Prozent. Die Bayerische Staatsregierung räume dem Ausbau nach wie vor "höchste Priorität" ein, sagt Markus Köpf vom Referat Ganztagsschulen im Kultusministerium.

Die meisten Kinder und Jugendlichen besuchen den sogenannten offenen Ganztag. Der formale Unterricht endet für alle Kinder mittags, die Schüler bleiben danach zum individuell organisierten Nachmittagsprogramm: Ob der Reitverein die Kinder zum Ponyreiten animiert, Turner junge Talente fördern oder die örtliche Malerin Nachwuchskünstler unterrichtet - das Programm steht allen Schulen offen. Erlaubt ist, was bildet und den Kindern gefällt. Sofern das Geld reicht. Insgesamt 71 Millionen Euro investiert der Freistaat für die Gehälter der Spezialisten, bis zu 30 000 Euro pro Gruppe und Jahr hat jede Schule zu Verfügung. Die Kommunen als Träger bezahlen 5000 Euro für externe Dozenten, der Freistaat legt 1000 Euro drauf und finanziert den Gegenwert der Lehrerstunden einer sogenannten gebundenen Ganztagsschule.

Letztere bewertet die Studie des Jugendinstituts als pädagogisch wertvoller. Im Unterschied zum offenen Konzept dauert der offizielle Unterricht bei Lehrern bis in den Nachmittag, aber Studierzeiten und lockerere Entspannungsphasen wechseln sich ab. Soziales und kognitives Lernen gelinge auf diese Weise besser, so die Studie. 59 000 Buben und Mädchen von der ersten bis zur zwölften Klasse lernen in Bayern im laufenden Schuljahr auf diese Weise. Im offenen Ganztag sind es 84 000.

Jörg Dräger von der Bertelsmann Stiftung bewertet die Vorteile des gebundenen Ganztags derart hoch, dass er einen Rechtsanspruch für jedes Kind auf einen Platz an einer solchen Schule fordert. Das dürfte vorerst allerdings Wunschdenken bleiben, denn um alle bayerischen Schüler auf diese Weise zu unterrichten, müsste der Freistaat nach Berechnungen des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm 1,7 Milliarden Euro investieren. Im Kultusministerium ist der Komplett-Ausbau indes gar nicht gewünscht. Das 2009 beschlossene Konzept der Staatsregierung sieht ein Nebeneinander von Regel- und Ganztagsschulen vor. "Die Regierung setzt auch künftig auf die Wahlfreiheit der Eltern", sagt Köpf.

Wobei vielen berufstätigen Müttern und Vätern genau diese Wahlfreiheit durch den schleppenden Ausbau verwehrt wird. Das Interesse an dem Thema und der Schulform ist immens - und auch die Fragen, die Eltern dazu haben: Auf der Internetseite des Kultusministeriums rangiert die Ganztagsschule auf Platz drei der meistgeklickten Themen nach Beratung und Übertritt.

Dabei geht es Eltern natürlich nicht immer nur um das gepriesene Bildungskonzept. Es stellen sich noch ganz andere Fragen, etwa, wie sich das Fehlen von Freizeit und der durchstrukturierte Nachmittag auf die Psyche der Schüler auswirken. Manchen Jugendlichen fehlen Mußestunden nach der Schule, in denen sie mit Freunden spielen oder draußen sein können. Ausgerechnet die Kinder seien bisher in der Debatte um Vor- und Nachteile von ganztägigem Unterricht zu wenig gehört worden, findet die Entwicklungspsychologin Maria von Salisch von der Lüneburger Lephana-Universität. Meist redeten Eltern, Pädagogen und Politiker.

Die Untersuchungen, die es zu Ganztagsschulen gibt, sind indes eher Belege dafür, wie sinnvoll diese sind. So befragte eine Mitarbeiterin von Salischs 2008 im Rahmen eines Forschungsprojektes 400 brandenburgische Haupt- und Realschüler der siebten Jahrgangsstufe - in dem Bundesland beginnen die weiterführenden Schulen mit der siebten Klasse - zu ihrem Kontakt mit Gleichaltrigen und analysierte die Entwicklung von Freundschaften. Die meisten Jugendlichen hatten am Ende des ersten Jahres in der neuen Schule neue Freunde gefunden, die außerschulischen Kontakte waren relativ schnell verblasst - unabhängig davon, ob sie eine Ganztags- oder eine Regelschule besuchten.

Zwei Jahre später hatten die Ganztagsschüler zwar weniger Freunde außerhalb der Schule als ihre Altersgenossen. Die Qualität der Freundschaften unter Ganztagsschülern sei aber weitaus höher, sagt Lehrstuhlinhaberin von Salisch, "die Jugendlichen stehen stärker füreinander ein, unterstützen sich bei Problemen, egal ob schulisch oder privat. Doch angesichts der vielen Stunden, die sie miteinander verbringen, könnte die Unterstützung noch stärker sein." Bei allen Vorteilen der Ganztagsschule: Die Kinder wünschten sich neben dem Lernen mehr Raum und Zeit, um ihre Freundschaften zu pflegen. Denn wer mit dem besten Freund lernt, empfindet es als Glück, lange in der Schule zu sein.

© SZ vom 08.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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