Am 25. August 2010 ist Alexander Dreyer (Name geändert) kurz vor ein Uhr nachts mit dem Fahrrad auf dem Münchner Karl-Marx-Ring unterwegs, als er an zwei Streifenpolizisten vorbeifährt. Die beiden fordern ihn zum Anhalten auf, denn Dreyer wird von einer verdächtigen Duftwolke umhüllt: Er riecht nach Marihuana. Die Beamten durchsuchen Dreyer, aber finden nichts. Dann suchen sie den Weg ab und stoßen hinter ihm auf das Beweisstück. Es ist noch warm. Es ist ein Joint.
Dreyer gibt sich geständig: Er sagt, er habe mit Freunden an dem Joint gezogen, allerdings sei er nicht dessen Eigentümer gewesen. Die Staatsanwaltschaft will es ganz genau wissen und gibt eine nicht ganz billige DNA-Analyse in Auftrag. Sie bestätigt, was Dreyer ohnehin bereits eingeräumt hat: Er hat an dem Joint gezogen. Ob er jedoch auch das Marihuana gekauft und den Joint gedreht hat, das kann die DNA-Analyse nicht klären. Das aber ist der entscheidende Unterschied: Der bloße Konsum von Marihuana ist in Deutschland straffrei, der Besitz jedoch nicht.
Dreyer landet wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln vor Gericht, obwohl die Polizisten ihm genau das nicht zweifelsfrei nachweisen können. Sie haben nicht gesehen, wie er den Joint weggeworfen hat. Weil er schon mehrmals wegen Drogenkonsums mit der Justiz zu tun hatte, fordert die Staatsanwalt für den Kleinkiffer drei Monate Gefängnis - ohne Bewährung. Dabei hat Dreyer weder gedealt, noch selbst Gras angebaut.
Wenn es um Marihuana geht, dann kennt Bayerns Justiz kein Pardon. Selbst Kleinkonsumenten und Mini-Anbauer, die ihr eigenes Gras pflanzen, verfolgt sie mit immensem Eifer. Der Fall Dreyer zeigt, wie Richter und Staatsanwälte oft an der Realität vorbeiurteilen und vorbeiermitteln. Es ist weniger eine rechtliche Frage als eine Frage der Kulanz und des Augenmaßes.
"In Berlin hätte die Polizei nicht einmal eine Strafanzeige gestellt", sagt Andreas Schwarzer, der Anwalt von Dreyer. In Bayern versuche man "eine Kriminalisierung auf allen Ebenen". Doch die Prohibition von Cannabis sei ebenso gescheitert wie einst das Alkoholverbot in den USA. "Vielleicht wäre es sinnvoller, das Geld statt in die Verfolgung lieber in die Aufklärung zu stecken", sagt Schwarzer. Richter und Staatsanwälte hätten ihm oft geantwortet: Bayern habe im Gegensatz zu anderen Bundesländern eben das Geld, um Kleinkonsumenten zu verfolgen. "So ist ihnen kein Aufwand zu hoch, nichts zu teuer."
Umdenken in der Drogenpolitik gefordert
Wegen solcher Fälle fordern mehr als hundert deutsche Strafrechtsprofessoren seit eineinhalb Jahren in einer Petition an den Bundestag ein Umdenken in der Drogenpolitik. Einige der Unterzeichner forschen und lehren an bayerischen Universitäten. Henning Rosenau etwa ist Professor für Strafrecht in Augsburg. Er sagt mit Blick auf die restriktive Drogenpolitik: "Man muss immer prüfen, ob ein Rechtsgut verletzt wird. Findet man keines, ist das Strafrecht als Gesetzesgrundlage ausgeschlossen."
Oder als Frage formuliert: Wen schützt eine repressive, kriminalisierende Verfolgung von Cannabis-Kleinkonsumenten? Die Bevölkerung? Die Kiffer? Strafrechtler Rosenau sagt: "Es ist allenfalls deren Gesundheit, und die wird bei Cannabis nicht ernsthafter bedroht als bei Alkohol." Der Griff zum Joint sei letztlich eine private Entscheidung. Die Verfolgung geringfügiger Cannabis-Delikte bezeichnet er als "selbst gemachte Kriminalität".
In der Debatte um eine Legalisierung von Cannabis wird häufig die Parallele zum Alkohol gezogen. Auf dem Oktoberfest beispielsweise betrinken sich jedes Jahr Millionen Menschen - ganz legal. Bayerns früherer Ministerpräsident Günther Beckstein fand das nicht so schlimm: Wenn man zwei Maß in sechs, sieben Stunden trinke, dann könne man schon noch Autofahren, sagte er 2008 in einem Interview. Von Verboten hielt er nichts: "Wir brauchen keine prohibitionsähnlichen Maßnahmen, sondern einen verantwortungsbewussten Umgang mit Alkohol. Und das muss jeder Erwachsene für sich selbst frei entscheiden können." Eine weit verbreitete Meinung, immer noch.
Doch bei Cannabis hört die Eigenverantwortung auf: "Der Konsum von Rauschgift ist in unserer Gesellschaft eben nicht als Verhalten akzeptiert", sagt Rosenau. "Es ist aber nun mal Realität, dass vor allem viele junge Menschen Marihuana ausprobieren." Rosenau schlägt deshalb vor, den Erwerb und Besitz straflos zu stellen. Die Bekämpfung des Drogenkonsums über das Strafrecht sei nicht der richtige Weg: "Das funktioniert einfach nicht."
Trotzdem geht gerade Bayern besonders hart gegen Kleinkonsumenten vor. Das lässt sich auch an den Zahlen des Landeskriminalamts ablesen: Im Jahr 2012 gab es etwa 22 000 allgemeine Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Darunter fällt der Besitz geringer Mengen Rauschgift, nicht jedoch der Handel oder der Schmuggel. Von diesen geringfügigen Fällen betrafen knapp 14 000 Cannabis. 2011 waren die Zahlen ähnlich. Die Verfolgung der Cannabis-Verstöße macht also fast zwei Drittel aller geringfügigen Betäubungsmittelverstöße aus. Zahlen darüber, in wie vielen Fällen die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat, gibt es allerdings nicht.
Geregelte Abgabe von Cannabis?
Henning Ernst Müller, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg, hat ebenfalls die Petition an den Bundestag unterzeichnet. Er sagt: "Die Kosten für die Strafverfolgung sind sehr hoch, man bindet schließlich Personal bei Polizei und Gerichten", sagt er. Die Drogenproblematik im Land sei dagegen unverändert geblieben, die Abschreckungsstrategie gehe ganz offensichtlich nicht auf. "Stattdessen stützt die Justiz ungewollt die organisierte Kriminalität, weil so der Markt klein gehalten wird", sagt Müller. Auch er fordert Reformen, zum Beispiel eine geregelten Abgabe von Cannabis. "Dann könnte der Staat sogar noch über Steuern mitverdienen."
Demonstration in München:Kleiner Kifferaufstand
"Ihr werdet's nicht vermuten - wir sind die Guten": 150 Menschen in München demonstrieren für die Legalisierung von Cannabis, unter ihnen ein Mitglied der Bayernpartei. Der Mann hat bereits 2500 Unterschriften für ein Volksbegehren gesammelt. Für ein bayerisches Hanf-Gesetz.
Die Revolution in der Drogenpolitik wird vorerst aber ausbleiben. Justiz und Politik in Bayern verteidigen ihre Strategie: Das Justizministerium erklärt, die Repression im Bereich der illegalen Suchtmittel sei eine bewährte Säule im Kampf gegen Drogen. "Von dem durch das Betäubungsmittelgesetz gewährten Spielraum bei Kleinkonsumenten von Cannabis wird auch in Bayern verantwortungsvoll Gebrauch gemacht", heißt es aus dem Ministerium. Von einem harten und unnachgiebigen Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden könne nicht gesprochen werden.
Das sieht auch Thomas Steinkraus-Koch so. Er ist Sprecher der Staatsanwaltschaft München I. "Das Betäubungsmittelgesetz wird angewandt und die entsprechenden Straftaten müssen verfolgt werden", sagt er. Alles andere sei Strafvereitelung im Amt. Den Vergleich mit anderen Bundesländern, die bei der Strafverfolgung weniger konsequent vorgehen, lässt er nicht gelten: "Wir machen, was wir für richtig halten, und wissen auch nicht, wie es anderswo gehandhabt wird."
Die Beweislage ist schwierig
Alexander Dreyer, der Kiffer auf dem Fahrrad, wurde am Ende vom Gericht freigesprochen. Es konnte nicht geklärt werden, ob er auch der Besitzer des Joints war. Die Staatsanwaltschaft kam zu einer gegenteiligen Einschätzung, sprach von "erdrückender Beweislage" und ging tatsächlich in Berufung, um doch noch eine Verurteilung zu erreichen. Erst als in der Berufungsverhandlung sein Freund gestand, den Joint besessen zu haben, nahm die Staatsanwaltschaft die Berufung zurück.
Cannabisrauchen bleibt ein riskantes Vergnügen. Strafrechtler Rosenau macht sich nur wenig Hoffnungen auf einen Wandel. "Deutschland ist, anders als unsere Nachbarländer, rechtspolitisch einfach nicht sehr progressiv", sagt er. Um doch noch etwas zu bewegen, müssten Politiker auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse diskutieren, die stark für eine Legalisierung sprechen. Das aber, weiß Rosenau, komme bei den Stammtischen schlecht an. "Damit sind keine Wählerstimmen zu gewinnen."