Lebenswerk:"Mich haben immer kontroverse Themen interessiert"

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Rainer Erler in seinem Arbeitszimmer in Bairawies. Das Bild entstand vor zehn Jahren anlässlich seines 80. Geburtstags. (Foto: Manfred Neubauer)

Rainer Erler hat sich nicht nur mit Science-Fiction-Filmen einen Namen gemacht. Sein Thriller "Fleisch" lief in 127 Ländern. An diesem Samstag feiert der Autor und Regisseur seinen 90. Geburtstag - leider nicht in Bairawies.

Von Anja Brandstäter, Dietramszell/Perth

Für den Film "Das Bohrloch oder Bayern ist nicht Texas" besetzte Drehbuchautor und Regisseur Rainer Erler 1965 die Rolle des Dr. Gerstl mit dem damals noch weitgehend unbekannten Gustl Bayrhammer. Die Dreharbeiten fanden im oberbayerischen Weildorf statt. Erler war bereits für seine gesellschaftskritischen und provokanten Filme bekannt. Für Bayrhammer war es der Durchbruch zu seiner späteren Filmkarriere. Der rasante Aufstieg des Dorfs Füssing zum Kurort Bad Füssing hatte Erler zu der bitterbösen Satire über Gier und Raffsucht inspiriert. Und prompt stieß der Film auf heftige Reaktionen: Der Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks wetterte bei der Erstausstrahlung 1966, der Film sei eine "Verächtlichmachung bayerischer Lebensart". Als die ARD den Film 1968 erneut ins Programm nahm, schaltete sich der BR aus der Gemeinschaftsübertragung aus und sendete den Komödienstadel. Heute kann Erler darüber lachen. An diesem Samstag feiert er seinen 90. Geburtstag.

Wer auf sein Lebenswerk zurückblickt, kommt ins Staunen: Erler hat nicht nur mehr als 40 Spielfilme in 30 Ländern gedreht, er hat zudem 14 Romane, gut zwei Dutzend Erzählungen und Kurzgeschichten sowie fünf Bühnenwerke geschrieben. "Mich haben immer kontroverse Themen interessiert", sagt er. Seine Werke waren gesellschaftskritisch, vorausschauend und boten stets Diskussionsstoff.

Jutta Speidel in "Fleisch". Der Thriller um Organhandel ging um die Welt und machte die damals 25-jährige Schauspielerin bekannt. (Foto: Rainer Erler/oh)

Erler wurde am 26. August 1933 in München geboren und wuchs in Solln auf. "Große Ferien verbrachten wir damals an der Ostsee", erzählt er. An Ostern, Pfingsten oder im Herbst aber ging es zu den Anzenhofers, die in Obermühlthal, einem Ortsteil von Dietramszell, eine Gerberei betrieben. "Das war immer ein Traumurlaub." Mit dem gleichaltrigen Sohn Thomas Anzenhofer ist er immer noch befreundet. Seine Aufenthalte im Landkreis sollten indes nicht lange auf die Ferien beschränkt bleiben.

Als er als Bub im Juli 1944 mit seinen Eltern zur Aufnahmeprüfung im Wittelsbacher Gymnasium erschien, ging prompt der Fliegeralarm los. Zur Prüfung kam es nicht mehr. "Die Schutzräume in der Schule waren begrenzt", erinnert er sich. Also flüchtete man unter den Bahnhof. "Da saßen wir nun mit Tausenden von Schutzsuchenden, die vor Angst immer wieder laut aufschrien, wenn oben die Bomben in den Bahnhof krachten. Dazu der Qualm. Es war wirklich zum Fürchten." Mitte Juli 1944 fanden die schwersten Luftangriffe auf München statt, sie legten die gesamte Innenstadt mit Residenz und Oper in Schutt und Asche.

Zum Ickinger Gymnasium mit der Isartalbahn

Der damalige Bürgermeister von Dietramszell, Martin Eichner, mit dem Rainer Erlers Vater befreundet war, wusste Rat: In Icking wurde damals ein neues Gymnasium gegründet, das von Solln aus gut mit der Isartalbahn zu erreichen war. "Trotz Mangel- und Hungerjahren nach dem Krieg folgten die wunderbarsten Schuljahre, die man sich wünschen konnte", sagt Erler. "Ich war zuständig für die Theateraufführungen der Schule. Dass ich später Filme machen werde, war beschlossene Sache, seit ich zwölf war."

Im Deutschunterricht hielt er einen Vortrag über Filmdramaturgie: Film- und Theaterregie als Gegensatz. Seine Facharbeit zum Thema "Moderne Tonfilmtechnik" umfasste mehr als hundert Seiten und half ihm später bei seiner Bewerbung beim Regisseur Rudolf Jugert, der ihn nach dem Abitur 1952 acht Jahre lang als Assistenten engagierte.

Rainer Erler (Mitte) mit 18 Jahren als König Kreon am Ickinger Gymnasium. (Foto: Privat/oh)

Sein Handwerk erlernte Erler unter anderem in den Filmstudios von München, Hamburg, Berlin und Wien. Er assistierte den Regisseuren Harald Braun, Kurt Hoffmann und Franz Peter Wirth. Das Produzieren lernte er bei Erich Prommer, der mit "Der letzte Mann" oder "Metropolis" Filmgeschichte schrieb.

Bereits Erlers erster abendfüllender Film "Seelenwanderung" erhielt das Kino-Prädikat "Besonders wertvoll" und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: dem Ernst-Lubitsch-Preis, dem Prix Italia, der Goldenen Nymphe (Regiepreis des Festivals von Monte Carlo) und dem Otto-Dibelius-Preis bei den 14. Filmfestspielen von Berlin. Nach seiner Erstausstrahlung in der ARD im Oktober 1962 lief er neun Wochen im "Münchner Studio für Filmkunst" und anschließend mehr als zehn Jahre in weiteren deutschen Programmkinos.

Nach dem Abitur stand Rainer Erler sofort neben der Kamera. (Foto: Privat/oh)

Seine Frau Renate lernte er 1960 kennen. Die beiden heirateten ein Jahr später. Gemeinsam bauten sie ein spektakuläres Haus in Bairawies in der Gemeinde Dietramszell, das bis heute in Familienbesitz ist. Dort, in seinem hellen, großen Atelier mit Blick in die Natur, schrieb Erler die meisten seiner Werke. 1972 gründete das Ehepaar die Produktionsfirma Pentagramma.

Auf dem Buchberg entstand die bizarre Komödie "Endkampf"

Ihr erster selbst produzierter Film "Sieben Tage" spielt in Geretsried und thematisiert den Konflikt zwischen Beruf und Berufung eines evangelischen Pfarrers. Dafür erhielt Rainer Erler den Adolf-Grimme-Preis. Zudem wurde der Film für den Preis der Deutschen Akademie der Künste nominiert. Auf dem Buchberg über Bad Tölz entstand die bizarre bayerische Komödie "Endkampf". Sie schildert die letzten zwei Kriegstage auf einem Einödhof, die Hauptrollen spielten Gustl Bayrhammer und Ruth Drexel. In Wolfratshausen, Königsdorf und Geretsried filmte Erler die Komödie "Mein Freund, der Scheich" mit Josef Bierbichler und wiederum Gustl Bayrhammer in den Hauptrollen.

Erlers Fünfteiler "Das Blaue Palais", gedreht in Thailand, Hongkong und den USA, gilt als eine der besten Science-Fiction-Produktionen des deutschen Fernsehens. Zu seinen erfolgreichsten Filme zählt zudem der Psycho-Thriller "Fleisch", mit dem er bereits 1979 das Thema Organhandel aufgriff. Für die Hauptrolle setzte er die damals 25-jährige Schauspielerin Jutta Speidel ein, die mit dem Film international bekannt wurde. "Fleisch" lief in 127 Ländern und hatte sogar in der DDR Erfolg: "Zwölf Millionen Kinokarten wurden dort verkauft", sagt Erler.

Als 1980 plötzlich einige junge Männer mit Glatze im Landkreis herumliefen, wussten Eingeweihte, dass es sich um Statisten in Erlers Satire "Ein Guru kommt" handelt. Der Film thematisiert einen kommerziell orientierten, west-östlichen Sekten-Rummel.

Zweite Heimat in Australien

Drei Filme drehte Erler in Australien: "Das schöne Ende dieser Welt", "Reise in eine strahlende Zukunft" und "Zucker". Zu Perth in Westaustralien hat die Familie eine besondere Beziehung. Tochter Tatjana machte dort in einer Privatschule ihr Abitur, beendete ihr Studium als Master for Clinical Psychology und ist seit 23 Jahren "glücklich verheiratet", wie Erler sagt. Er und seine Frau Renate sind Großeltern von zwei erwachsenen Enkelkindern. Seit 1982 haben sie in Perth ihre zweite Heimat gefunden. Viele Jahre verbrachten sie die Wintermonate dort. Seit der Corona-Pandemie 2020 leben sie ausschließlich dort, haben jedoch "Sehnsucht nach unserem geliebten Bairawies", wie Erler sagt. Dort lebt nun ihr Sohn Tobias und kümmert sich um das Anwesen.

Neben seinem Beruf engagierte sich Erler auch politisch in seiner Heimatgemeinde Dietramszell. Er gründete den "Schutzverband Zeller Tal", um eine Autobahnspange und später einen Straßenausbau zwischen Bairawies und Dietramszell durch das Naturschutzgebiet zu verhindern. Mit Schulklassen zog er durch die Au-Wälder, um Müll aufzusammeln, und organisierte eine Protestversammlung gegen eine Mülldeponie, über die dann auch das BR-Fernsehen berichtete.

Australischer Sekt für Freunde und Nachbarn - und ein Geschenk vom BR

2004 erhielt Rainer Erler für sein Gesamtwerk den Deutschen Fantasy-Preis der Stadt Passau und das Bundesverdienstkreuz vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau. 22 seiner Filme sind zurzeit im Videohandel verfügbar. Zu seinem 90. Geburtstag wiederholte das Bayerische Fernsehen gerade den Kurzfilm "Der letzte Stammtisch" aus dem Jahr 1984. Ein grantelnder Taxler (Gustl Bayrhammer) kutschiert einen larmoyanten Rentner (Hans Stadtmüller) durch München in dessen verhasste neue Heimat Neuperlach. Auf humorvolle Weise kommen Themen wie Entmietung, Luxussanierung und Wohnraumnot zur Sprache - heute so aktuell wie vor 40 Jahren.

Wie feiert Erler nun den großen Tag? "Mit einem Sektempfang für die Familie, sechs deutschsprachige Freunde und vier Nachbarn von den Hills, wo wir wohnen", sagt er. Ausgeschenkt werde australischer Sekt, kein importierter. Abends gebe es dann noch ein großes thailändisches Essen. Und hat er einen Geburtstagswunsch? "Den hat mir der BR mit der Sendung meines Films ,Der letzte Stammtisch' bereits erfüllt."

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