Nachkriegsgeschichte:Die Genese eines Jahrhundertwerks

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In der Aula der Universität tagt im September 1946 die Verfassungsgebende Landesversammlung. Sie erarbeitete die Bayerische Verfassung, die nun an den Schulen stärker in den Fokus genommen werden soll. (Foto: Keystone Pressedienst)

Vor 75 Jahren ist die Bayerische Verfassung in Kraft getreten. Der große Anteil, den die Amerikaner an der Demokratisierung Bayerns hatten, ist jedoch etwas aus dem Blick geraten. Ihr Einsatz wurde damals kleingeredet, um die Akzeptanz der Verfassung in der Bevölkerung zu erhöhen.

Von Hans Kratzer, München

Als der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende ging, begann für die meisten Deutschen sogleich eine weitere Periode der Bitternis. Das Land lag zertrümmert da, die Lebensverhältnisse waren desolat, alle Hoffnungen waren verflogen. Doch dann nahm die Geschichte einen unerwarteten Verlauf. Dass das Land so rasch aus Ruinen hochgepäppelt wurde, wie es der SZ-Journalist Herbert Riehl-Heyse einmal formuliert hatte, war vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht zu verdanken. Dieses Faktum wird heute kaum noch wahrgenommen. "Warum es ein Glück war, den Krieg gegen die Amerikaner verloren zu haben", so lautete der Titel von Riehl-Heyses Artikel aus dem Jahr 1995. In der Tat hatte es das in der Weltgeschichte nicht oft gegeben, dass ein Sieger den Besiegten, deren Schuld deutlich zutage lag, nicht bestrafen, sondern ihnen helfen wollte. Gewiss verfolgten die Amerikaner damit auch weltpolitische Ziele. "Und trotzdem ist es einmalig, wie da den zu Boden Gegangenen wieder auf die Beine geholfen wurde, finanziell und ideell", würdigte Riehl-Heyse dieses ungewöhnliche Engagement der Amerikaner.

Dass in Bayern bereits kurz nach dem Krieg die Grundpfeiler der Demokratie gesetzt werden konnten, ist in jeder Hinsicht erstaunlich. Als am 30. Juni 1946 die ersten landesweiten demokratischen Wahlen seit 1933 stattfanden, war dieser Urnengang zwar noch keine Landtagswahl, eine solche fand erst ein halbes Jahr später statt, aber es wurde die Verfassunggebende Landesversammlung gewählt. Diese sollte eine Verfassung ausarbeiten. "Das war ein Meilenstein der Demokratiegeschichte Bayerns", sagt der Historiker Ferdinand Kramer.

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"Es hat mich immer gewundert, wie das alles so reibungslos und vor allem in so kurzer Zeit geschehen konnte. Immerhin war doch im Mai 1945 ganz Deutschland und Bayern noch durchsetzt mit einer großen Zahl von Nationalsozialisten, und es herrschte schlimmste wirtschaftliche Not", sagt der Münchner Rechtsanwalt Florian Besold, der sich mit der Bayerischen Verfassung besonders eng verbunden fühlt. Als Präsident der Bayerischen Einigung/Bayerischen Volksstiftung ist er seit Jahrzehnten die treibende Kraft für jene Verfassungsfeiern, die alljährlich daran erinnern sollen, dass die Bayerische Verfassung am 1. Dezember 1946 durch freie Abstimmung vom Volk angenommen wurde. Die Bayerische Einigung hat die Feier zum Bayerischen Verfassungstag 1967 begründet und seitdem wesentlich dazu beigetragen, dass die Verfassungsgeschichte nicht in Vergessenheit gerät.

Amerikanische Hilfestellung

Umso mehr bedauert Besold, dass die Feier zum 75. Jubiläum, die an diesem Freitag stattgefunden hätte, wegen der Corona-Krise ausfallen muss. Ausgerechnet diese Feier, die den Anteil der Amerikaner an der Verfassungsgebung und an der Entwicklung der Demokratie in Bayern würdigen hätte sollen. Ein Beitrag, "der in der Tat bemerkenswert und verdienstvoll ist", wie Besold sagt. Aus einschlägigen Arbeiten von Historikern lernte er zu seiner eigenen Überraschung, dass vor allem die Amerikaner die Bildung von verfassungsgebenden Landesversammlungen vorangetrieben haben. Für Besold ist es höchste Zeit, dies bei der Verfassungsfeier gebührend herauszustellen. Der Historiker Hermann Rumschöttel hat deshalb zu diesem Thema eine Festrede vorbereitet, in der er die Verfassung des Freistaats Bayern von 1946 als Teil der amerikanischen Demokratisierungspolitik nach dem Krieg erörtert. Da sie nicht vorgetragen werden kann, soll sie nun in der von der Bayerischen Einigung herausgegebenen Zeitschrift Bayernspiegel veröffentlicht werden.

"Dass uns die amerikanische Hilfestellung gerade bei Verfassungsjubiläen nicht immer im angemessenen Maße bewusst war und ist, kann man vielleicht als eine späte Nachwirkung der Skepsis ansehen, mit der manche Zeitgenossen die Demokratisierungsaktivitäten der Militärregierung betrachtet haben", sagt Rumschöttel. Das Ganze hatte aber auch taktische Gründe. Persönlichkeiten der damaligen Reformkräfte wie Wilhelm Hoegner und Hans Nawiasky redeten den amerikanischen Einfluss bisweilen klein, und zwar in der guten Absicht, dadurch die Akzeptanz der Verfassung in der bayerischen Bevölkerung zu erhöhen.

US-General Lucius D. Clay leitete nach dem Krieg das Office of Military Government for Bavaria (OMGBY) und forcierte die Demokratisierung Bayerns. (Foto: DENA-Bild)

Dazu passt ganz gut der Grundsatz des US-Generals Lucius D. Clay: "The constitutions must represent their will und not that of the occupation forces" (frei übersetzt: diese Verfassung muss den Willen der Bayern und nicht den der Besatzungsmacht zum Ausdruck bringen). Clay leitete nach dem Krieg das Office of Military Government for Bavaria (OMGBY), das direkt der amerikanischen Militärregierung in Berlin nachgeordnet war.

Clay plante schon im Herbst 1945, dass die unter US-Herrschaft stehenden Länder nicht nur über eine konstitutionelle Grundlage verfügen sollten, sondern auch über Regierungen, die von einer parlamentarischen Mehrheit getragen wurden. Clay sah früher als andere die Zeit gekommen, Demokratie und Wertewandel durch Wahlen zu stärken.

Sowohl bei seinem Wunsch nach Wahlen als auch bei seiner Vorstellung, so rasch als möglich in der US-Zone Länderverfassungen in Kraft treten zu lassen, musste er sich über starke Widerstände seiner Berater und über Bedenken aus Washington hinwegsetzen, sagt Rumschöttel. Auch bei der Verfassunggebung drängte Clay zur Eile. Sein Zeitplan sah vor, dass die Länder spätestens bis Ende 1946 über genehmigte Verfassungen und demokratisch legitimierte Regierungen verfügen sollten. "Es ist also nicht übertrieben, wenn man in General Lucius D. Clay den Initiator und spiritus rector der Bayerischen Verfassung sieht", bilanziert Rumschöttel. Es gibt also mehrere Verfassungsväter, neben Wilhelm Hoegner muss auch Clay genannt werden.

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Besold zählt viele Beispiele auf, die belegen, wie massiv die amerikanische Besatzungsmacht am Aufbau des Landes mitgeholfen hat, etwa bei der Restauration der Residenzen in München und Würzburg. Für ihn gilt generell, "dass fast alle unmittelbar nach dem Krieg Geborenen die außerordentlich fürsorgliche und menschliche Behandlungsweise der Amerikaner erfahren haben". Daraus habe sich das in der Bevölkerung so positive Amerikabild ergeben, "das aber in den letzten Jahren nicht unerhebliche Eintrübungen erfahren hat."

Ein Freundschaftsbuch feiert das Jahrhundertwerk

Zum 75. Geburtstag der Bayerischen Verfassung hat die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit unter dem Titel "Meine Verfassung" ein Freundschaftsbuch veröffentlicht. 62 Persönlichkeiten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen haben darin ihre Meinung über das Jahrhundertwerk formuliert. In den Kommentaren setzten sie sich jeweils mit einem Artikel der Bayerischen Verfassung auseinander. Landtagspräsidentin Ilse Aigner nahm sich den Artikel 20 und damit ihre eigene Rolle im Landtag vor. Als sie das Freundschaftsbuch kürzlich im Maximilianeum gemeinsam mit Rupert Grübl, dem Direktor der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, und Schülerinnen und Schülern des Franz-Marc-Gymnasiums Markt Schwaben vorstellte, betonte sie: "Die Bayerische Verfassung setzt Werte, die nicht verhandelbar sind - und das erfolgreich seit 75 Jahren. Damit bildet sie feste Leitplanken für unsere Demokratie, so wie die Verfassungsmütter und -väter es sich erhofft hatten, und setzt einen stabilen Rahmen für den besten Staat, den wir je hatten."

Direktor Grübl sagte, es sei für die Landeszentrale schnell klar gewesen, "dass wir im Jubiläumsjahr neben der wissenschaftlichen Beschäftigung die Menschen in Bayern und ihr Verhältnis zur Verfassung in den Fokus rücken wollen." Zwei wissenschaftliche Einführungstexte befassen sich mit der Entstehung und den Inhalten der Verfassung. Nach wie vor können Bürgerinnen und Bürger Beiträge zur Verfassung in Wort, Bild und Ton einreichen an: landeszentrale@blz.bayern.de.

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