Es ist ein Ordner des Grauens, in dem sie die Berichte sammeln: Die Kinder von einst erzählen, wie Patres des Klosters Ettal sie prügelten und sexuell missbrauchten. 80 Opfer- und Zeugenberichte gibt es inzwischen, 31-mal wird dort der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs erhoben, 88-mal geht es um Prügel und Demütigungen. So wird es in dem Sachstandsbericht stehen, den die Benediktiner an diesem Freitag vorstellen. Die Vorwürfe richten sich gegen insgesamt 13 Patres, von denen sieben bereits tot sind, und zwei Erzieher. Meist geht es um den 2009 verstorbenen Pater M. Acht Patres und die beiden Erzieher sollen geprügelt haben. Die Beschuldigten, die noch im Kloster leben, sind von allen seelsorglichen und pädagogischen Aufgaben entbunden. Der wiedergewählte Abt Barnabas Bögle erklärt, wie das Kloster mit dieser Schuld umgehen will.
SZ: Wie geht es Ihnen nach der Achterbahnfahrt der letzten Monate? Empfinden Sie Glück, Triumph, Genugtuung?
Barnabas Bögle: Weder noch. Ich sehe mich in der Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass wir den Opfern helfen.
SZ: Das heißt konkret?
Bögle: Wir haben ein Konzept für die Opferhilfe erstellt, und ich habe das Thema zur Chefsache erklärt. Im März hatten wir einen runden Tisch mit Vertretern vom Weißen Ring, von der Caritas, vom Jugendschutz, von "Wir sind Kirche". Wir versuchen, mit den Geschädigten ins Gespräch zu kommen. Ich habe mit manchen Opfern viele Stunden zusammengesessen, ihre Geschichten haben mich erschüttert. Jedes Opfer hat seinen eigenen Schmerz, seine eigene Geschichte. Einige wollten einfach reden, andere ihre Wut zum Ausdruck bringen. Auch das muss ich aushalten.
SZ: Gibt es Opfer, die mit dem Täter sprechen wollen? Und wollen die Täter das?
Bögle: Zuerst geht es um die Opfer, die Mitbrüder stehen in der zweiten Reihe. Die meisten Geschädigten haben solche Gespräche abgelehnt, dort besteht die Gefahr, dass ein Opfer erneut verletzt wird.
SZ: Stellen sich die Täter der Verantwortung?
Bögle: Manche schon, manche nicht. Mir fällt der Umgang mit den Tätern, die ja meine Mitbrüder sind, nicht leicht.
SZ: Sie leben unter einem Dach, sitzen gemeinsam am Mittagstisch, versuchen, miteinander zu beten.
Bögle: Es fällt uns manchmal schwer, gemeinsam zu beten. Gemeinsam mit dem Altabt, der zu den Beschuldigten gehört. Gemeinsam mit Mönchen, denen man sagen muss, dass sie Täter sind.
SZ: Wie werden Sie in Zukunft miteinander leben können?
Bögle: Indem wir zunächst die Ursachen für den Missbrauch und seine Vertuschung klären. Ich erkenne immer mehr, dass wir unfähig waren, miteinander zu sprechen und zuzuhören.
SZ: Das ist doch die Basis des gemeinsamen Ordenslebens.
Bögle: Das ist ein großes Versagen. Wir müssen nun als Gemeinschaft sprachfähig werden, das wird ein langer Prozess. Und meine große Aufgabe als Abt. Aber nur so erreichen wir, dass die Täter ihre Schuld zugeben. Und wir müssen bei der Ausbildung der jungen Mönche auch stärker über Sexualität sprechen.
SZ: Welche Hilfen bieten Sie Opfern an?
Bögle: Wir übernehmen Therapiekosten. Aber klar ist auch: Eine Therapie ist keine Entschädigung, und man kann das Geschehene auch nicht einfach "wiedergutmachen".
SZ: Die katholischen Bischöfe in Österreich haben einen Fonds für Missbrauchsopfer aufgelegt. Jeder Geschädigte erhält dort 5000 Euro. Wäre das auf Ettal übertragbar?
Bögle: Wir möchten abwarten, wie die Deutsche Bischofskonferenz entscheidet.
SZ: Dieses Warten ist für die Opfer schwer verständlich.
Bögle: Wir treffen uns nächste Woche mit den Vertretern der Opfer, um diese Frage zu besprechen.
SZ: Woher wird das Geld kommen?
Bögle: Vom Kloster. Wir werden das nicht auf den Kirchensteuerzahler abwälzen.
SZ: Hätten Sie sich eine Entschuldigung des Münchner Erzbischofs Reinhard Marx gewünscht, da das Erzbistum doch recht heftig gegen das Kloster vorgegangen ist?
Bögle: Ich denke, Kloster und Erzbistum sind jetzt auf einem Weg, auf dem wir gemeinsam vorwärtsgehen können. Uns war es zum Beispiel sehr wichtig, dass nach der Abtwahl das Erzbistum schnell und noch vor der Presse per Fax informiert wurde - damit der Erzbischof es nicht aus der Zeitung erfährt.
SZ: Wissen Sie inzwischen, was in dem Bericht der Visitatoren steht, der Sie von dem Vorwurf entlastet, sich nicht richtig verhalten zu haben?
Bögle: Nein. Wir werden es wohl auch nicht erfahren.
SZ: Dann bleibt ein Schatten auf der Rehabilitation - zwei Benediktiner haben den Bericht verfasst, und niemand kennt ihre Argumente.
Bögle: Ich weiß, dass die Visitatoren sehr viele Gespräche geführt haben: mit jedem einzelnen Mönch, mit Schüler- und Elternvertretern, Mitarbeitern, mit dem Erzbischof und dem Generalvikar, mit dem Sonderermittler Rechtsanwalt Thomas Pfister. Monatelang wurden all diese Aussagen geprüft.
SZ: Ein solcher Bericht könnte ja auch ein Spiegel für Sie sein. Sie waren ja, als die ersten Missbrauchsfälle bekannt wurden, sehr hilflos.
Bögle: Ja, wir waren furchtbar hilflos. Aber so hilflos sind wir nicht mehr. Nun müssen wir daran arbeiten, dialogfähig, transparent und glaubwürdig zu werden. Das ist jetzt meine Aufgabe als Abt. Ich muss mich um die Opfer kümmern, ich muss helfen, dass im Kloster eine Atmosphäre entsteht, in der ein Missbrauch oder Gewalt nicht mehr jahrelang gedeckt werden kann. Missbrauchsprävention muss bei uns Erwachsenen anfangen, bei den Mönchen, den Erzieherinnen und Erziehern, Lehrern.
SZ: Haben Sie nicht irgendwann gedacht: Es soll ein anderer Abt werden?
Bögle: Die Frage stellte sich so nicht. Das ist kein Amt, das man wollen darf. Meine Brüder haben mich gewählt, dem will und muss ich mich stellen. Dieses Amt wird eine schwere Bürde sein. Wir müssen noch viel mehr tun, als den Missbrauch aufklären. Wir müssen über unser Zusammenleben reden, über unsere Sexualität, das sind wir noch nicht gewohnt.
SZ: Die Leute fragen jetzt sehr kritisch, wenn ein Benediktiner aus Ettal auftaucht.
Bögle: Sie fragen zu Recht: Wie wählt ihr die Novizen aus, wie bildet ihr die Mönche aus, wie geht ihr mit eurer Sexualität um? Ich kann da nicht einfach als Abt Antworten geben, es muss die Gemeinschaft der Mönche hinter meinen Antworten stehen. Das ist schwer im Augenblick, deshalb brauchen wir Helfer von außen.
SZ: Wer könnte das sein? Bräuchten Sie nicht auch dringend einen externen Sonderermittler?
Bögle: Wir brauchen in drei Bereichen Hilfe. Erstens bei der Aufarbeitung der Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche. Zweitens, um miteinander reden zu lernen, da gibt es jetzt die ersten Supervisionsstunden. Und drittens brauchen wir Hilfe auf der spirituellen und theologischen Seite: Wir haben wesentliche Elemente benediktinischen Lebens nicht ernst genommen. Das erste Wort unserer Regel heißt: Höre! Wir haben nicht gehört.
SZ: Sie brauchen also einen reinigenden Prozess, lateinisch: ein Purgatorium, ein Fegefeuer.
Bögle: Ja, ich hoffe, dass ein reinigender Prozess in Gang kommt.
SZ: Wo war denn in all diesen Monaten der schrecklichen Offenbarungen Gott?
Bögle: Gott war da. Vor allem hat er durch die Opfer gesprochen, in ihrer Trauer und in ihrem Zorn, in ihren Verletzungen.