Auf deutschen Straßen herrscht Krieg. So scheint es zumindest. Jeder gegen jeden ist das Motto. Es wird geflucht, geschimpft, gestikuliert. Hinter dem Steuer sind wir wie entfesselt. Auch der kommende Verkehrsgerichtstag in Goslar (29. bis 31. Januar) beschäftigt sich wieder mit diesem Thema. Thomas Wagner ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) und erklärt im Interview, warum wir uns im Straßenverkehr so enthemmt benehmen.
SZ: Umfragen ergeben, dass es immer rauer auf deutschen Straßen zugeht - zumindest empfinden die Menschen das so. Was sagen Sie als Experte dazu?
Thomas Wagner: Es ist schwierig. Mit Blick auf objektive Indikatoren aus statistischen Daten lässt sich das nicht nachweisen. Delikte, die mit Behinderung und Belästigung im Straßenverkehr zu tun haben, sind um 16 Prozent zurückgegangen, Körperverletzung und fahrlässige Tötung seit den Achtzigerjahren um 80 Prozent. Wenn man sich Untersuchungen zu Abstandsmessungen zwischen Fahrzeugen anschaut, gibt es Befunde, die dafür sprechen und Ergebnisse, die zu einer gegenteiligen Interpretation kommen. Wenn Sie sich auf subjektive Daten berufen, also Befragungen, dann sagen die: Seit 2016 hat sich das Verkehrsklima verschlechtert. Und zwar deutlich, 56 Prozent sind dieser Ansicht.
Woher kommt diese Diskrepanz zwischen objektiven Untersuchungen und dem subjektiven Empfinden?
Was man landläufig mit aggressiv meint, das ist so etwas wie rücksichtsloses Verhalten, grob verkehrswidrig, eine schlechte Kinderstube, die im Straßenverkehr ausgelebt wird. Also Dinge wie die Vorfahrt nehmen, Lichthupe geben, den anderen schneiden. Das ist aber nicht das, was Verkehrspsychologen oder Juristen als aggressiv bezeichnen.
Wie definieren Sie das?
Es ist ein Gesetzesverstoß, bei dem jemand geschädigt wird oder eine Schädigung droht. Das heißt, es muss außerhalb des gesetzlichen Rahmens sein.
Geben Sie doch mal ein Beispiel.
Jemand überholen, dann bewusst runterbremsen, vielleicht sogar bis zum Stillstand, aus dem Auto zerren und dann verprügeln. Da haben Sie dann alles: Nötigung, Körperverletzung und eine Schädigungsabsicht. Was Verkehrsteilnehmer als Aggression im Straßenverkehr bezeichnen, ist eher ein Inkaufnehmen oder nennen wir es eine Sorglosigkeitshaltung - "ich lasse es bei meinem Verhalten einfach mal darauf ankommen, auch wenn ich mich außerhalb der Regeln bewege".
Uns selbst empfinden wir aber nie als Aggressor. Schuld sind immer die anderen.
Wir unterscheiden deutlich zwischen uns und den anderen Verkehrsteilnehmern. Sie werden kaum einen Autofahrer finden, der sich selbst als schlechten Fahrer einschätzt. Wenn ich mich für den König der Straße halte und dann kommt einer daher, nimmt mir die Vorfahrt, dann bin nie ich schuld. Dann heißt es immer: Der andere kann nicht fahren. Wir schreiben uns selbst die positiven Eigenschaften zu und die negativen eher den anderen.
Warum rasten wir gerade im Straßenverkehr so schnell aus? Im Supermarkt käme doch auch keiner auf die Idee, sofort andere in der Warteschlange zu beschimpfen.
Das hat mit der Anonymität der Situation zu tun. Das Auto ist ein geschützter Raum, ein Stück Intimsphäre. Das lässt sich gut an der Ampel beobachten: Wie viele Leute da in der Nase bohren oder andere merkwürdige Sachen machen! Die andere Erklärung ist, dass uns im Auto nur reduzierte Informationen zur Verfügung stehen. Es findet keine direkte Kommunikation statt. Wir wissen nicht, warum der andere so handelt, wie er handelt - ob er uns behindert, weil er vielleicht selbst in Eile ist oder sich verfahren hat. Also unterstellen wir ihm eine negative Eigenschaft und nehme diese Fremdbeurteilung als Freibrief, um ausrasten zu dürfen. Das ist in der Sozialpsychologie gut untersucht und fällt unter die sogenannten Attributionsfehler. Im Supermarkt oder in der Straßenbahn geben wir uns nicht so leicht die Blöße. Da sind einfach soziale Kontrollmechanismen stärker wirksam, weil man sich nicht zum Deppen machen will.
Im evolutionären Sinne sind das Selbstschutzmechanismen. Ich fahre meine Aktivierung hoch und der Organismus schaltet auf Flucht oder Verteidigung. Im Prinzip wie früher der Neandertaler. Das hat den blöden Nebeneffekt, dass das Gehirn nicht mehr ganzheitlich denken kann - da geht das ein oder andere verloren. Wir schalten in Stresssituationen unser Gehirn auf serielle Verarbeitung.
Es läuft also ein automatisches Programm ab, wir sind nicht mehr in der Lage, alle Informationen gleichzeitig zu verarbeiten?
Genau. Es werden auch Stereotype im Gehirn aktiviert, die mit den Merkmalen des Fahrzeugs zusammenhängen. Der Schleicher. Der Mann mit Hut auf der Ablage. Der sorglose Freak in seinem Hippie-Bus. Die führen dazu, dass wir leichter eine absichtliche Provokation sehen als zu sagen: Der hat sich vielleicht einfach nur vertan und das nicht mit Absicht gemacht.
Inwieweit spielt der zunehmende Verkehr eine Rolle? In der Stadt konkurrieren Fahrräder, Autos, E-Scooter und Fußgänger um immer weniger Platz.
Da gibt es schon einen Zusammenhang. Aggressives Verhalten wird vor allem durch Frustration, Wut oder Verärgerung angetrieben. Und diese Emotionen hängen von bestimmten Situationen ab. Die Verkehrsdichte, Überlastung der Straßen, Staus, Behinderungen, mit denen man nicht rechnet. Das trägt dazu bei, dass wir uns schneller ärgern. Studien zeigen, dass das Empfinden von Ärger dann besonders hoch ist, wenn es eine Differenz zwischen eigener Wunschgeschwindigkeit und tatsächlich fahrbarer Geschwindigkeit gibt. Oder wenn Fahrzeuge vor mir nicht ausweichen. Andere Verkehrsteilnehmer hinter mir drängeln. Daraus resultiert das aggressive Verhalten, dass ich mich über Regeln hinwegsetze und ein "Revanche-Foul" im Straßenverkehr begehe.
Was kann ich tun, wenn ich merke, dass ich jetzt aggressiv bin?
Da hilft nur den nächsten Parkplatz suchen, durchschnaufen, Pause machen, einfach die Fahrt unterbrechen und sich bewusst zurückzusetzen. Das sind die einzigen Tipps, die funktionieren.
Was müsste geschehen, um den Umgang im Straßenverkehr wieder friedlicher zu gestalten?
Das ist eine Mammutaufgabe. Da hängt das ganze Verkehrssystem dran. Und es ist eine verkehrspolitische Entscheidung. Das ließe sich zum Beispiel über die Geschwindigkeit regeln.
Sie meinen zum Beispiel ein Tempolimit auf Autobahnen?
Die wissenschaftlichen Fakten sind glasklar und nicht erst seit gestern bekannt: Jeder dritte Unfall weltweit hat mit Geschwindigkeit zu tun. Rund drei Viertel aller Eintragungen im Fahreignungsregister, das frühere Punktekonto in Flensburg, sind die Folge überhöhter Geschwindigkeit, Verletzung des Mindestabstands und von Rotlichtverstößen. Nähmen sich die Deutschen da ein wenig zurück, wäre viel für die Verkehrssicherheit und gegen die Aggressivität auf der Straße getan.