Autofreier Urlaubsort Serfaus:Hier fährt man unterirdisch zur Ski-Piste

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Standseilbahn auf Luftkissen: Die neu gestaltete Dorfbahn von Serfaus. (Foto: Christian Waldegger/Leitner Ropeways)

Wie viele Bergdörfer wurde auch Serfaus einst von motorisierten Urlaubern überrollt. Die Tiroler sperrten den Individualverkehr aus - mit einer verblüffenden Idee.

Von Johanna Pfund

Die Brotzeit will Edmund Althaler an diesem Sommertag 1984 nicht so recht schmecken. Er hat Risse in seiner Stubendecke entdeckt und prompt den Bürgermeister alarmiert. Die Risse hängen sicher mit den Sprengarbeiten für die neue Untergrundbahn in Serfaus zusammen. Und so viel Erschütterung verträgt sein Haus in dem Tiroler Bergdorf hoch über dem oberen Inntal nicht. Es stellt sich schnell heraus: Die Fundamente reichen nur einen Meter weit in die Erde und der Beton ist lediglich mit alten Heusensen verstärkt. Dies ist eine von vielen Geschichten, die die Serfauser von ihrem Jahrhundertprojekt erzählen können: Der U-Bahn in der Dorfmitte und einem Verkehrskonzept, das viele Stadtplanungen in den Schatten stellt.

Mitte der 80er-Jahre ging die Dorfbahn in Betrieb. Die Luftkissen-Standseilbahn, deren Trasse unter der Dorfstraße verläuft, war damals eine europaweite Sensation. Und das ist sie immer noch. Gerade erst hat die Seilbahn Komperdell, eine 100prozentige Tochter der Gemeinde Serfaus, die Bahn für 26 Millionen Euro auf den neuesten Stand gebracht. Wieder als Luftkissen-Standseilbahn mit energiesparendem Direktantrieb, vier barrierefreien Stationen und einer Förderkapazität von 3000 Personen pro Stunde. Damit zählt Serfaus neben Wien und Linz zu den drei Orten in Österreich, die ein Verkehrsmittel im Untergrund haben.

Beim Bau der Bahn in den Achtzigerjahren wurde die Dorfstraße komplett aufgerissen. (Foto: Seilbahn Komperdell)

"Ja, wir sind stolz darauf", sagt Bürgermeister Paul Greiter. Dabei regierte hier bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Not. "Mein Großvater war noch ein Schwabenkind", erzählt Greiter. Die Bergbauern konnten ihre oft kinderreichen Familien mit dem Wenigen, das die Viehwirtschaft in der Grenzregion zwischen Tirol, Vorarlberg und der Schweiz auf 1400 Metern Höhe abwarf, kaum ernähren. Also schickten sie die Kinder im Frühjahr hinaus nach Schwaben, wo sie als Hütejungen, als Knechte und Mägde arbeiten mussten. Mit dem Aufkommen des Tourismus in den Alpen bot sich für die Bergbewohner ein neuer Wirtschaftszweig - auch in Serfaus, das heute gemeinsam mit den Nachbardörfern Fiss und Ladis einen Tourismusverbund bildet. Allein in Serfaus kommen heute auf die 1100 Bürger gut 7000 Gästebetten, etwa 1,2 Millionen Übernachtungen zählt der Verbund im Jahr. Der Bürgermeister selbst ist, wie fast alle hier, Vermieter und wie weitere 45 Dorfbewohner Nebenerwerbslandwirt. "Wir haben eine intakte Landwirtschaft", sagt er. Fleisch und Käse werden gleich wieder in den Hütten am Berg angeboten. Ein Kreislauf der kurzen Wege.

Doch der touristische Erfolg zeigte schon in den Siebzigerjahren seine Schattenseiten. Die kleine Ortschaft ist eine Sackgasse, und just am Ende des Ortes liegt die Talstation der Bergbahn. Die Touristen fuhren durch die engen Gassen und suchten einen Parkplatz. An schönen Tagen herrschte Chaos. Schon bald entwickelten die Serfauser ein Verkehrskonzept. "Mit der Zunahme des Tagesgeschäfts wurde ein Parkplatz am Ortseingang gebaut, und die Gäste transportierte man mit Bussen zur Seilbahn", erzählt Greiter. Aber auch dieser Shuttle-Service mit ausrangierten Nahverkehrsbussen geriet bald an seine Grenzen, immer mehr Busse quälten sich durch den Ort.

Die Serfauser machten sich auf die Suche nach Alternativen. "Wir sind früh auf eine unterirdische Variante gekommen", berichtet Greiter. Verschiedene Möglichkeiten wurden diskutiert - und einem handfesten Praxistest unterzogen. Die Serfauser reisten nach Frankfurt, um dort die Rollbänder am Flughafen auszuprobieren: in kompletter Skifahrer-Montur mit Stiefeln, Anzug, Ski und Stöcken. "Da hat man schnell festgestellt, dass 1,3 Kilometer mit Skiausrüstung so nicht zurücklegbar sind." Also fiel die Wahl auf eine Bahn.

Zur Eröffnung wurde extra ein Marsch komponiert

"Es war schon ein verrücktes Projekt", sagt Greiter rückblickend. Und hätten die Dorfbewohner geahnt, was auf sie zukommt, hätten wohl manche versucht, den Bau zu verhindern. Zwei Sommer lang wurde die Dorfstraße komplett aufgegraben für den Tunnel. Reinhard Walch, bei der Bahnbetreiberin Seilbahn Komperdell GmbH für das Marketing zuständig, hat die Zeitzeugen befragt. "Wenn wir gewusst hätten, was das wird, hätten wir nie zugestimmt", hat ihm ein alter Serfauser erzählt. Anekdoten aus der Bauzeit wie die mit den Sensenblättern im Fundament gibt es reichlich. Aus alter Gewohnheit kippte ein Bauer etwa seinen Mist hinaus vor die Stalltür - nur hatte er vergessen, dass dort nun eine Baugrube war. Andere erreichten ihre Gärten nur noch über wacklige Bretterbrücken; von Lärm und Dreck, der alle betraf, ganz zu schweigen.

Aber die Unannehmlichkeiten zahlten sich aus. Am 14. Dezember 1985 nahm die Serfauser U-Bahn ihren Betrieb auf. Zur Eröffnungsfeier komponierte man den "Serfauser Dorfbahnmarsch". Noch heute geht es von der Station Parkplatz über die Haltestellen Kirche und Zentrum bis zur Endstation an der Seilbahn, knapp 1300 Meter Strecke, 20 Meter Höhenunterschied.

Das Verkehrskonzept aus den Siebzigern wurde in den folgenden Jahren immer wieder angepasst. "In der Basis besteht es aber bis heute", sagt Greiter. Das winterliche Fahrverbot wurde 2013 auch auf den Sommer ausgedehnt, zwischen den Reisesaisons wird es aufgehoben. Die Gäste dürfen nur An- und Abreise mit dem Auto absolvieren, der Lieferverkehr ist auf zwei Tage beschränkt, die Einheimischen haben wie die Touristen Fahrverbot, aber ein eigenes Pickerl, das es ihnen erlaubt, an- und abzufahren. Die Dorfpolizei kontrolliert - und verhängt auch Strafen. "Die Einheimischen leben gut damit", sagt Greiter. Vor vier Jahren hat Serfaus noch eins drauf gesetzt: Der ganze Ort ist Begegnungszone, alle Verkehrsteilnehmer sind gleichberechtigt, die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 20 Stundenkilometer. Die Gäste schätzen das. "Sie können Urlaub ohne Auto machen", sagt Greiter. Und für die Tourismus-affinen Serfauser, sagt er, gehöre das Verkehrskonzept zum guten Ton.

Viele freudige Gesichter gab es bei der Wiedereröffnung der Dorfbahn Anfang September. (Foto: Andreas Kirschner/Seilbahn Komperdell)

Kein Wunder, dass die Seilbahn Komperdell sich bei kürzlich abgeschlossenen Modernisierung ins Zeug gelegt hat. Die Stationen hat man einer Schönheitskur unterzogen. Die Station Kirche wurde direkt neben das Pfarrmuseum gelegt, auf zwei Ebenen gelangt man barrierefrei zur Bahn. Svarovski-Kristalle formen an der Decke ein 3D-Bild der Serfauser Berge. Jede der vier Stationen ist einem Thema gewidmet: die Station Kirche der Geschichte, eine den Vereinen, eine weitere der Technik. Der Dorfarchivar, 84 Jahre alt, beginnt seine Führungen jetzt in der Station Kirche.

Die Südtiroler Firma Leitner Ropeways lieferte Technik und Wagen. Die Antriebsspitzenleistung liegt bei 950 kW, die Zahl der Luftkissen wurde auf 82 erhöht, die Wagen sind eine halbe Tonne leichter als zuvor, außerdem einen halben Meter breiter und höher. Die Wagentüren öffnen sich synchron mit den gläsernen Bahnsteigtüren. Pro Stunde kann die U-Bahn, die ständig rauf und runter fährt, 3000 statt nur 1600 Personen befördern.

Das sprengt wiederum die Kapazitätsgrenze der Komperdell-Bahn: "Wir werden zur Wintersaison 2021/22 die Komperdell-Bahn erneuern", sagt Walch. Egal, jetzt haben die Serfauser erst mal gefeiert. Anfang September rückten Schützen, Musikkapelle und Dorfbewohner zum Feldgottesdienst aus. Zum Kirchtag und zur Feier der Serfauser U-Bahn.

© SZ vom 28.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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