Es gibt Dinge, die brauchen (zügige) Bewegung für ihre richtige Balance. Holzkreisel, Fahrräder oder Düsenjäger zum Beispiel. Ähnlich von Instabilität bedroht scheint auch der touristische Mensch zu sein. Immer suchend, immer planend, immer irrend tut er vor allem eins: sich von einem Urlaub zum nächsten hangeln. Als Jäger und Sammler von Instagram- oder Partytalk-tauglichen Ereignissen ist der Freizeitreisende mental ständig in Bewegung. Also im Prinzip ruhelos, egal, wie viel von Ruhe, Wellness und Auszeit die Rede ist.
Ein Höhepunkt dieser zyklischen Bewegung ist der kollektiv erlebte und durchlittene Sommerstau. Die Blechschlange der Sonnen-, Sinn- und Freizeithungrigen in Deutschland hätte im vergangenen Sommer fünfmal um die Erde gereicht. Endlich ist der Reiseverkehr wieder auf dem Vor-Corona-Level von 2019 angekommen. Dieser erregte Stillstand auch beim Schlangestehen am Flughafen und in überfüllten Zügen hatte uns doch sehr gefehlt. Im Lockdown gab es nichts, worauf wir so hinfiebern konnten wie auf den Gardasee mit all seinen Verheißungen zur Hauptreisezeit.
Aber die Wühltischatmosphäre beginnt ja schon viel früher. In den Wintermonaten, also jetzt, wenn es an Licht und Bewegung an der frischen Luft mangelt, gehen die Planungen erst richtig los - und das Feilschen um die besten Ferien-Slots. In jeder Firma lässt sich derzeit erleben, wie lautstark die lieben Kollegen um die besten Liegeplätze in der nächsten Sommersaison ringen. Man kennt das ja: Die Kindergartenschließzeit und die Schulferien sind eine Form von höherer Gewalt gegen die Familie als Keimzelle des Staates. Und weil der touristische Mensch nicht nur ein Familien-, sondern auch Herdentier ist, geht derjenige als Sieger hervor, der mit all den anderen am längsten im Stau stehen darf.
Ist dieser "Drang, diese Mühsal der Fernmobilität" noch Bewegungslust oder schon eine diagnostizierbare Krankheit, wie der österreichische Verkehrsexperte Hermann Knoflacher in seinem neuen Buch "Virus Auto 4.0" meint? Der Arzt Gerhard Danzer hält in "Eudämonie - Vom guten, besseren, gelingenden Leben" dagegen: Während der Alltag von Grenzen, Regeln und der Wiederkehr des ewig Gleichen geprägt sei, würden diese drögen Notwendigkeiten für den Touristen schrumpfen, sobald er auf Reisen gehe - ja meist schon, wenn er den Plan dazu fasse.
Dieses Plus an Freiheit ließen sich die Deutschen 2019, also vor den coronabedingten Lockdowns, allein für ihren Hauptjahresurlaub laut Danzer etwa 75 Milliarden Euro kosten. Die Bilanz des Reisesommers 2023 sieht ganz ähnlich aus: Wer es sich leisten konnte, gab sogar noch mehr Geld aus als vor der Pandemie. Nachholender Freiheitsbedarf sozusagen. Dass dieser Ausbruch aus dem Alltag zyklisch und stereotyp oft zu den immer gleichen Reisezielen erfolgt? Geschenkt. Und dass schon Horaz wusste, dass derjenige, der übers Meer fährt, nur den Himmelsstrich, nicht aber sich selbst verändere? Dagegen stehen Regale voller Reisebücher, die dem Leser das Blaue vom Himmel herab versprechen.
Aber es bleibt eben genau das: ein Versprechen von Freiheit. Ähnlich vollgepackt wie das Frühstücksbuffet in einem Luxushotel. Mit allen Folgen für das Wohlbefinden. Worin sich die beiden genannten Buchautoren übrigens treffen, ist das Lob der Langsamkeit. Danzer sagt es mit Johann Gottfried Seume (1763-1810): "Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt ... Wer zu viel im Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen."