Corona:"Weder zielführend, noch verhältnismäßig"

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"Eine Pandemiebekämpfung ausschließlich im Rahmen einer Kontaktpersonennachverfolgung" werde bald nicht mehr möglich sein, prophezeit der Bonner Virologe Hendrik Streeck. (Foto: Federico Gambarini/dpa)

Virologen fordern eine Abkehr von der bisherigen Strategie der Pandemie-Bekämpfung

Von Christina Berndt, Felix Hütten und Christina Kunkel

Das Timing hätte nicht besser sein können - oder schlechter, je nach Standpunkt. Ausgerechnet am Tag, an dem in Deutschland ein neuer Höchststand bei Infektionen mit dem Corona-Virus gemeldet wird, fordern Wissenschaftler und Ärzte um die Virologen Hendrik Streeck von der Universität Bonn und Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg eine Abkehr von der bisherigen Strategie. Es sei an der Zeit, die gewonnenen Erkenntnisse stärker zu berücksichtigen, heißt es in einem Positionspapier mit dem Titel "Gemeinsame Position von Ärzteschaft und Wissenschaft". Unterstützt wird das Papier von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und zahlreichen ärztlichen Berufsverbänden, darunter dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen - also den Vertretungen praktizierender Ärzte. Wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften finden sich dagegen kaum unter den Unterzeichnern.

Die Autoren fordern eine Abkehr von der bisherigen Strategie der Kontaktverfolgung von Infizierten. Der "rasante Fallzahlanstieg nach den ruhigeren Sommermonaten" zeige klar, dass "eine Pandemiebekämpfung ausschließlich im Rahmen einer Kontaktpersonennachverfolgung nicht mehr möglich" sein werde. Deshalb sollten Behörden ihre Energie in den Schutz von Alten und Kranken investieren. Zum Beispiel solle ein Zutritt zu Altersheimen nur noch nach einem Schnelltest möglich sein. Auch die Organisation von Nachbarschaftshifen sei hilfreich. "Wenn ich weiß, ich gehöre zu einer Risikogruppe, dann sollte ich mein Kontaktverhalten überdenken", empfahl Andreas Gassen, Vorsitzender der KBV. Jeder müsse selbst entscheiden, welches Risiko er eingehen möchte.

Die Virologen werben für mehr Eigenverantwortung

Die übrige Bevölkerung hingegen sollte eher zum Mitmachen motiviert als gezwungen werden. Eigenverantwortung könne letztlich stärker dazu beitragen, dass Menschen sich an Regeln halten. Würden die bekannten AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken) und das Nutzen der Corona-Warn-App konsequent umgesetzt, wäre das "vollkommen ausreichend, um die Pandemie gut zu überstehen", so der Virologe Schmidt-Chanasit .

Es sei falsch, das öffentliche Lebens jetzt wieder herunterzufahren. "Ein pauschaler Lockdown ist weder zielführend, noch verhältnismäßig", sagte er. Das senke zwar kurzfristig die Infektionszahlen, doch nach wenigen Wochen sei der Effekt verpufft. Die Situation in Spanien oder Frankreich zeige, "dass das nicht funktioniert", sagte KBV-Chef Gassen.

Eine möglichst baldige drastische Kontaktbeschränkung hatten die wichtigsten deutschen Forschungsorganisationen (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft) und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina erst am Dienstag gefordert. Die Menschen müssten ihre Kontakte im Durchschnitt auf ein Viertel senken, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme.

Auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat das Papier von Streeck und Co nicht unterzeichnet. Noch seien genug Intensivbetten verfügbar, sagte DIVI- Präsident Uwe Janssens, doch bei steigenden Infektionszahlen laufe man Gefahr, eine intensivmedizinische Versorgung "bald nicht mehr in vollem Umfang gewährleisten zu können".

Streeck und Schmidt-Chanasit dagegen verweisen auf Nebenwirkungen der bisherigen Strategie. "Wir erleben bereits die Unterlassung anderer dringlicher medizinischer Behandlungen, ernstzunehmende Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen durch soziale Deprivation und den Niedergang ganzer Wirtschaftszweige." Es sei ohnehin unmöglich, jede Infektion zu unterbinden. "Wir müssen unsere Energien vielmehr darauf setzen, die besonders zu schützen, die diesen Schutz benötigen", sagte Streeck der SZ.

Eine aktuelle Studie aus Schweden zeigt indes, dass der Schutz von Risikogruppen ohne strenge Einschränkungen des öffentlichen Lebens nur bedingt funktioniert. Demnach starben in Stockholm nicht nur besonders viele Menschen über 70 Jahren in Pflegeheimen. Auch für Ältere, die mit mehreren Generationen in einem Haushalt lebten, war das Sterblichkeitsrisiko um 66 Prozent höher als bei Menschen, die keine Mitbewohner im erwerbsfähigen Alter hatten. Die Forscher fordern daher, sich nicht nur auf Schutzmaßnahmen in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen zu fokussieren.

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