Zusatzuntersuchungen beim Arzt:"Wollen Sie etwa erblinden?"

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"Ich hab' da noch was für Sie": Ärzte machen ihren Patienten immer mehr dubiose Angebote. Die fühlen sich verunsichert - und häufig zur Annahme der kostspieligen Leistungen gedrängt.

Werner Bartens

"Wollen Sie etwa erblinden?", fragt die Sprechstundenhilfe. "Wir können damit Prostatakrebs früh erkennen", sagt der Urologe. Immer mehr Praxispersonal wird in Kursen geschult, das Gespräch mit Patienten in eine Richtung zu lenken.

Augenärzte kassieren am häufigsten für Zusatzleistungen. (Foto: Foto: dpa)

Mit der Drohung, schwer zu erkranken, sollen Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) verkauft werden, das Personal bekommt Provision. Offenbar ist die Strategie erfolgreich, denn die Arztpraxis verkommt zum Verkaufsstand.

Immer mehr gesetzlich Krankenversicherte bekommen IGeL angeboten. Mehr als die Hälfte der Menschen hat bereits Erfahrung mit den meist unnötigen und medizinisch fragwürdigen Leistungen, die von Patienten selbst bezahlt werden müssen.

Zu diesem Ergebnis kommen Sozialmediziner der Universität Lübeck um Heiner Raspe in der kommenden Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts (Bd.26, S.433, 2009). Andererseits gab jeder fünfte Patient an, dass ihm Leistungen vom Arzt versagt wurden. Mehr als 40 Prozent derjenigen, die darüber klagten, wurde die verwehrte Leistung später als IGeL angeboten.

"Ich fürchte, dass die Igelei noch weiter zunimmt", sagt Michael Kochen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. "Eigentlich müsste es einen Aufschrei der Patienten geben, aber offenbar wird es gesellschaftlich akzeptiert."

Raspe und sein Team hatten zufällig ausgewählte Einwohner von Freiburg und Lübeck angeschrieben und zu Erfahrungen in der Arztpraxis befragt. Mehr als 2600 Erwachsene nahmen an der Erhebung teil. 41,7 Prozent der Befragten berichten, dass ihnen in den vergangenen zwölf Monaten IGe-Leistungen angeboten wurden. Nur selten ging die Nachfrage von den Patienten aus.

Leistungen zum Selberzahlen

Am häufigsten "igelten" die Augenärzte, gefolgt von Gynäkologen, Urologen, Orthopäden und Hautärzten. Typische Untersuchungen sind die Messung des Augeninnendrucks bei Patienten ohne Beschwerden, Ultraschall ohne medizinischen Grund, ungenaue Krebstests, fragwürdige "Aufbauspritzen" und Laboruntersuchungen ohne Indikation.

Während angebliche Vorteile der Angebote hervorgehoben wurden, informierten nur wenige Ärzte über die Risiken der IGeL. "Einige Befragte fühlten sich durch Zusatzleistungen verängstigt, verunsichert oder zur Annahme der Leistungen gedrängt", schreiben die Autoren.

Dass den Befragten medizinische Leistungen versagt wurden, erlebten sie am häufigsten bei Orthopäden, Allgemeinmedizinern, Haut- und Augenärzten. Für die Begründung der Mediziner, dass die Krankenkassen die Leistung nicht mehr erstatten würden, hatten die meisten Patienten kein Verständnis.

Umso erstaunter waren jene 43,3 Prozent, dass ihnen die versagte Leistung später zum Selbstzahlen angeboten wurde - den meisten noch im selben Gespräch.

Der Jahresumsatz mit IGeL wird in Deutschland auf eine Milliarde Euro geschätzt. Tendenz steigend. 2007 haben laut Analyse der Krankenkassen 27 Prozent der Patienten IGe-Leistungen angeboten bekommen.

Die Ärzte beachten das Einkommensgefälle ihrer Klientel. Wer mehr verdient, wird auch häufiger gefragt, ob er noch zusätzliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen will. "Ich könnte kaum noch Patienten überweisen, wenn ich einen Facharzt suchen würde, der nicht igelt", sagt Michael Kochen.

Er nimmt sich die Zeit, seinen Patienten zu erklären, was sie beim Augenarzt oder beim Urologen erwartet: "Ihnen werden Tests angeboten. Ihnen wird gesagt, dass sie das unbedingt brauchen - aber das stimmt nicht." Kochens ultimativer Rat an die Patienten: "Nehmen Sie kein Geld mit zum Arzt."

© SZ vom 25.06.2009/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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