Verhaltensforschung:Kultur der Kapuzineraffen

White-Faced Capuchin Monkey

Alles nachäffen? Von wegen. Populationen von Kapuzineraffen entwickeln ihr eigenes kulturelles Profil bei der Partner- und Futtersuche.

(Foto: AP)

Die Tiere führen die Pfoten ihrer Freunde an ihr Gesicht, Buckelwale singen in Dialekten: Auch Tiere entwickeln kulturelle Gepflogenheiten von erstaunlicher Vielfalt.

Von Katrin Blawat

Sicherlich ist das Ritual nicht jedermanns Sache: Die Hand eines Freundes nehmen (notfalls auch den Fuß) und sie aufs eigene Gesicht legen. Die Augen schließen. Mehrmals tief einatmen, mehr als eine Minute lang.

Für die Kapuzineraffen der sogenannten Abby-Gruppe gehört dieses Verhalten zum Alltag. Ihre Artgenossen aus der benachbarten Bette-Gruppe wurden dagegen nie beim Handschnüffeln beobachtet. Solche Variationen in den Gepflogenheiten verschiedener Populationen einer Art sind mehr als nur eine bemerkenswerte Anekdote. Anthropologen und Biologen werten derartige Beobachtungen als Belege dafür, dass auch Tiere Kultur besitzen. So zahlreich sind die Hinweise darauf in den vergangenen Jahren geworden, dass Carel van Schaik, Direktor des Instituts und Museums für Anthropologie der Uni Zürich, sagt: "Ich glaube, dass bei den üblichen Verdächtigen wie Primaten, Walen und Krähen viel mehr Verhalten kulturell bedingt ist, als wir derzeit wissen." Auch bei anderen Arten wie Meisen, Fischen und sogar Insekten scheuen sich Forscher immer weniger, von Kultur zu sprechen.

Es ist ein großer Begriff. Einer, bei dem die meisten Menschen an Vernissagen, Theaterpremieren, Symphoniekonzerte und vielleicht noch an verstiegene Diskussionen unter Intellektuellen denken dürften. Dabei ist das nur eine Facette von Kultur. Eine andere ist auch im Alltag jenseits der Feuilletons allgegenwärtig, etwa in den Ess- und Feierritualen, der Musik und den Erzählungen eines Landes. Kultur, das meint vor allem die spezifischen Gewohnheiten einer Gruppe, auch zum Beispiel einer Familie. Wenn sich Vater, Mutter und deren Kinder in Diskussionen grundsätzlich ins Wort fallen, dann gehört das zur Familienkultur.

Allgemein bedeutet Kultur eine Fertigkeit, Gewohnheit oder Informationen, welche die Mitglieder einer Gruppe dauerhaft untereinander weitergeben. Das kann nützliche Dinge betreffen wie eine besonders effiziente Jagdtechnik, bizarre Gepflogenheiten oder auch nachteilige Traditionen, etwa wenn sich Guppys eine längere statt der kürzeren Route zum Futterplatz angewöhnt haben. Kultur kann, muss aber nicht nützlich sein. Bei all dem ist keine Vererbung im Spiel, sondern das sogenannte soziale Lernen - anders ausgedrückt: "nachäffen".

Der größte kulturelle Reichtum im Tierreich ist von Schimpansen bekannt. Das liegt auch daran, dass keine andere Spezies seit Jahrzehnten so akribisch beobachtet wird wie diese Primaten. Ein Team um Andrew Whiten von der schottischen University of St Andrews wertete Langzeitbeobachtungen in sieben Schimpansengruppen aus. Die Forscher kamen auf 39 Verhaltensweisen, die sich kaum durch genetische Einflüsse oder Umweltbedingungen erklären ließen. Darunter fiel zum Beispiel das Nussknacken mithilfe von Hammer und Amboss der Schimpansen im Tai-Nationalpark in der Elfenbeinküste. Im Gombe-Nationalpark in Tansania dagegen gibt es zwar ebenfalls Nüsse - dort lassen die Affen sie aber links liegen, wenn sie zum Öffnen Werkzeuge benötigen würden.

Nur wenig kürzer als bei den Schimpansen fällt die Liste der kulturellen Verhaltensweisen in Orang-Utan-Gruppen aus. Nur in einigen der sechs untersuchten Populationen bauten sich die Orang-Utans Sonnendächer - obwohl es überall ähnlich heiß war. Und nur in einigen der Gruppen hatte sich die Angewohnheit verbreitet, mit Blättern Wasser aus tiefen Baumlöchern zu saugen oder mit Zweigen nach Insekten zu angeln.

Weißschulter-Kapuzineraffen in Costa Rica sind die dritte Primatenart, deren Kultur Forscher bisher ausgiebig untersucht haben. Neben dem Handschnüffeln lassen sich die einzelnen Gruppen auch danach unterscheiden, ob sie regelmäßig an Fingern, Ohren oder am Schwanz eines Kumpanen saugen. Jede Population hat ihr eigenes kulturelles Profil entwickelt, das so verschiedene Lebensbereiche umfasst wie die Futter- und Partnersuche und den Umgang mit Artgenossen.

Meisen lernen voneinander, wie sie den Verschluss von Milchflaschen aufpicken

Abgesehen von den Primaten erreichen auch Wale einigen kulturellen Reichtum. Buckelwale von der Westküste Australiens etwa singen anders als ihre Artgenossen von der Ostküste. Doch auch im Tierreich bedeutet Kultur nicht einen starren, unveränderlichen Kanon. Im Gegenteil: Als einige Männchen von West nach Ost gewandert waren, glichen sich die Gesänge beider Populationen einander an. Auch verschiedene Jagdtechniken für die jeweils gleiche Beute haben sich in den einzelnen Buckelwal-Gruppen etabliert. In manchen Populationen "fangen" die Tiere zum Beispiel ihre Beute in einer Art Netz aus vielen kleinen Luftblasen.

Jenseits der "üblichen Verdächtigen", wie van Schaik sie nennt - Primaten, Wale, Rabenvögel - tun sich manche Wissenschaftler schwerer damit, auch bei anderen Tieren von Kultur zu sprechen. Unumstritten ist jedoch, dass zum Beispiel Meisen ein großes Talent zum sozialen Lernen haben und bereitwillig neue Gewohnheiten übernehmen. Das zeigte sich schon in den 1920er-Jahren in England, als immer mehr der Vögel begannen, die Foliendeckel von Milchflaschen aufzupicken, um an den Rahm zu kommen. Im vergangenen Jahr belegte Lucy Aplin von der University of Oxford in einer Nature-Studie, wie schnell sich Neues unter den Singvögeln ausbreiten kann. Aplin brachte Kohlmeisen bei, eine Futterbox auf eine bestimmte Art zu öffnen. Innerhalb von nur drei Wochen hatten drei von vier Gruppenmitgliedern die Technik von den zuvor eigens angelernten "Demonstratoren" übernommen. Auch ein Jahr später, als die Gruppe nur noch zu einer Minderheit aus den ursprünglichen Mitgliedern bestand, hatte sich die neue Methode gehalten.

Mit derartigen Übertragungsexperimenten lässt sich in Echtzeit die Entstehung kulturellen Verhaltens nachvollziehen. Komplizierter wird es bei wild lebenden Tieren, die man nicht so einfach in Versuchen testen kann. Auch halten manche Wissenschaftler die strikte Einteilung in genetisch, ökologisch oder kulturell bedingtes Verhalten für unsinnig. Schließlich spielen oft alle drei Faktoren eine Rolle, nur eben in unterschiedlicher Gewichtung. "Forscher wären oft besser beraten, wenn sie Verhaltensvarianten verschiedenen Quellen zuordnen würden", schreiben Kevin Laland und Vincent Janik von der University of St Andrews in den Trends im Fachjournal Ecology and Evolution.

Wie aber entwickeln sich Traditionen und Kultur, wenn genetische und Umwelteinflüsse als treibende Kraft weitgehend entfallen? "Interessant wird es erst, wenn Innovationen beteiligt sind", sagt Carel van Schaik. Ein Gruppenmitglied muss den Mut haben und die Notwendigkeit spüren, vom gewohnten Trott abzuweichen. Selbstverständlich ist beides nicht - warum etwas ändern, wenn doch alles gut läuft? Die, die sich dennoch an Neues heranwagen, sind meist jung und rangniedrig. Sie haben wenig zu verlieren, dafür lockt die Aussicht auf mehr Futter oder bessere Schlafplätze. Wer hoch oben in der Hierarchie steht, bekommt ohnehin von allem genug.

Plötzlich fingen die Makaken an, die Süßkartoffeln vor dem Verzehr im Fluss zu waschen

Damit eine Innovation ihren Weg von unten durch die Gruppe macht, müssen die Tiere zu sozialem Lernen fähig sein. Eine einfache und weit verbreitete Form davon erklärt die Verhaltensforscherin Juliane Bräuer in ihrem Buch "Klüger als wir denken: Wozu Tiere fähig sind" (Spektrum) mit einem Marktbesucher. Der kommt an einer Menschenschlange vor einem Stand mit Erdbeeren vorbei. Prompt fällt ihm ein, dass er auch Erdbeeren kaufen wollte. Auf die Idee ist er unabhängig von den anderen gekommen, die Menschenmenge hat nur seine Aufmerksamkeit auf den Obststand gelenkt und die Idee wieder an die Oberfläche geholt.

Dieses Prinzip dürfte auch hinter der Kultur des Kartoffelwaschens japanischer Makaken stecken. In den 1950er-Jahren kam ein Weibchen auf die Idee, die von Forschern ausgelegten Süßkartoffeln im Fluss zu reinigen. Zunächst folgte seine Mutter dem Beispiel, und drei Jahre später wuschen 40 Prozent der Gruppe die Kartoffeln. Vermutlich hatte der Anblick von Artgenosse, Kartoffel, Wasser und Sand mehrere Makaken unabhängig voneinander auf die gleiche Idee gebracht.

Ein anderer Weg des sozialen Lernens besteht darin, die Handlungen des Artgenossen exakt zu kopieren. Schimpansen nehmen es dabei nicht sehr genau, Hauptsache, das Ergebnis stimmt. Beobachten sie einen Artgenossen beim Hantieren an einem Futterbehälter, der sich auf verschiedene Weisen öffnen lässt, übernehmen sie nicht unbedingt dessen Methode. Warum auch, wenn sich die Belohnung anders ebenfalls hervorholen lässt?

Tiere müssen Problemlösungen immer wieder neu finden - der Mensch entwickelt sich weiter

Nicht nur dieses Beispiel lehrt: Affen äffen nicht alles nach. Die eifrigsten Nachmacher sind Menschen, vor allem Kinder. Sie kopieren jeden Handgriff, wie vor allem Michael Tomasello vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie gezeigt hat. Kinder imitieren sogar Handlungen, deren offensichtliche Unsinnigkeit sie durchaus begriffen haben. Etwa wenn jemand in die Hände klatscht, ehe er einen Lichtschalter drückt.

Was zunächst streberhaft wirken mag, zahlt sich aus, wenn die Probleme und ihre Lösungen komplexer werden. Zusammen mit der rein menschlichen Eigenschaft, viel Zeit und Mühe ins gezielte Unterrichten zu stecken, sehen viele Forscher hier die Basis für die Einzigartigkeit der Kultur von Homo sapiens. Unter allen anderen Arten sticht er damit hervor, wie er mit seiner Kultur umgeht. "Sowohl Tiere als auch Menschen haben Kultur", resümiert der Anthropologe van Schaik.

"Aber nur beim Menschen ist sie für sich allein zu einer evolutionären Kraft geworden." Sein Kollege Kevin Laland ergänzt: "Menschliche Innovationen gründen auf früheren Ideen. Sie kumulieren und gehen über das hinaus, was ein Individuum jemals allein erreichen könnte." Im Tierreich hingegen wird das Rad immer wieder neu erfunden. Eine schöne Vorstellung, und auch noch wissenschaftlich untermauert: Menschen entwickeln sich weiter, immer weiter.

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