Tinnitus:Das große Rauschen

Ständig pfeift, klickt oder klingelt es in ihren Ohren: Mehrere Millionen Menschen sind von Tinnitus betroffen. Ärzte aus Texas machen den geplagten Patienten nun neue Hoffnung auf Linderung.

Werner Bartens

Für Patienten ist es die Hölle. Ein ständiger Ton, mal als Pfeifen, mal als Klicken oder Klingeln. Er kann in verschiedenen Frequenzen auftreten, und wenn die Geräusche aus der Umgebung leiser werden, kehrt nicht etwa Ruhe ein, stattdessen wird es dann von innen umso lauter. Nachts hält das permanente Geräusch viele Betroffene wach.

Wissenswert: Warum koennen so wenige Menschen mit den Ohren wackeln?

In Deutschland leiden bis zu zehn Prozent der Erwachsenen zeitweilig oder ständig unter Tinnitus.

(Foto: ddp)

Tinnitus ist zwar nicht gefährlich, aber eine Plage. In Deutschland sind bis zu zehn Prozent der Erwachsenen zeitweilig oder ständig von dem lästigen Dauerton betroffen - das entspricht vier bis fünf Millionen Menschen.

Die meisten kommen gut damit zurecht, aber bei fünf Prozent der Betroffenen ist der Leidensdruck so stark, dass sie von Arzt zu Arzt ziehen und nahezu jede sich bietende Therapie ausprobieren. "Tinnitus hat fast immer zugleich körperliche wie seelische Ursachen", sagt Olaf Hoffmann von der Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen, in der jährlich mehr als 1000 Patienten behandelt werden, die an dem Dauerton leiden.

"Das Hörsystem ist hochkomplex und filtert ständig Störgeräusche heraus", sagt Hoffmann. "Sonst würde wir permanent unseren Herzschlag oder den Blutfluss hören." Durch Stress, Angst oder den Schock nach einem Unfall wird die Filterfunktion jedoch beeinträchtigt. Das Gehirn wertet die Störgeräusche plötzlich als richtige Signale und nimmt sie dauerhaft wahr.

"Die Betroffenen konzentrieren sich darauf, das verstärkt das Geräusch und der Tinnitus-Teufelskreis beginnt", sagt Hoffmann. "Teil unserer Therapie ist es, Patienten zu vermitteln, dass wir gar nicht genau wissen wollen, wie es bei ihnen pfeift und brummt. Sie sollen ja gerade nicht ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten."

Auch für viele Ärzte ist Tinnitus ein Reizwort - gleichbedeutend mit anstrengenden Patienten und unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten. Stark von Tinnitus geplagte Patienten kommen immer wieder, denn ihr Leiden verschwindet selten ganz. "Es gibt so viel furchtbaren Mist, der den Patienten aufgedrängt wird", sagt Wilhelm Niebling, Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin an der Universität Freiburg und praktizierender Hausarzt. "Was tatsächlich etwas bringen kann, ist die psychotherapeutisch unterstützte Habituations-Schulung."

Für Tinnitus-Patienten ist dieses sogenannte Retraining ein großer Erfolg, wenn sie sich an ihren ständigen Begleiter gewöhnen und den Ton irgendwann kaum noch als störend oder gar nicht mehr wahrnehmen.

Ärzte aus Texas machen den geplagten Patienten neue Hoffnung. Im Fachblatt Nature (online) von diesem Donnerstag beschreiben sie eine neuartige Form der Nervenstimulation, mit der das Tinnitus-Geräusch ausgeschaltet werden soll.

"Wir vermuten, dass Tinnitus und manch chronischer Schmerz dadurch entstehen, dass es nach Nervenschädigung oder Lärm-Trauma zu Veränderungen im Gehirn kommt und Neuronen irregulär feuern", sagen die Hirnforscher Navzer Engineer und Michael Kilgard von der Universität Texas. Sie wollen das Gehirn so trainieren, dass es irritierende Nervensignale ignoriert und störende Geräusche nicht mehr wahrnimmt. Dazu soll der Vagus-Nerv am Hals gereizt werden; eine ähnliche Methode wird bereits zur Behandlung von Depressionen und Epilepsie eingesetzt.

"Mit Medikamenten kann man diese geringfügigen Veränderungen im Gehirn nicht erreichen, aber mit kurzen Pulswellen zur Nervenstimulation haben wir es bereits geschafft", sagt Kilgard. Allerdings kann die Methode noch nicht bei den vielen Geräuschgeplagten angewendet werden - bisher ist sie nur bei Ratten erfolgreich gewesen. Die Behandlung soll aber noch in diesem Jahr an Menschen erprobt werden.

Im Gebrauch sind auch kleine Ton-Generatoren für das Ohr. Die Rauschgeräte mit dem zusätzlichen Störgeräusch sind leiser als der Tinnitus und sollen das Gehirn anregen, die Störungen herauszufiltern. "In etlichen Fällen wird dann auch der Tinnitus rausgefiltert", sagt Olaf Hoffmann.

Den Tinnitus übertönen

Günther Egidi vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin empfiehlt Patienten, angenehme Musik zu hören. "So laut, dass sie den Tinnitus übertönt und so leise, dass sie nicht weiter stört." In der Sprechstunde fragt Egidi seine Patienten, ob sie das Summen des Computers, der während der Unterhaltung zumeist läuft, wahrgenommen haben. "Dieser Vergleich hilft manchen Patienten für ihr Krankheitsverständnis", sagt der Allgemeinarzt. "Sie hören Sachen, die das Gehirn normalerweise abschaltet."

Ist die Geräuscherzeugung einmal angeschaltet, ist ihr medizinisch schwer beizukommen. Keine Behandlung hilft zuverlässig. Oft richtet sie sich danach, an welchen Arzt man gerät. "Alles, was der Pflanzenmarkt hergibt, wird ja auch noch angeboten, besonders Ginkgo-Präparate", sagt Wilhelm Niebling.

Die verschiedenen Formen der Tinnitus-Therapie spiegeln Moden in der Krankheitserklärung wider. Zahlreiche Patienten wurden mit Infusionen behandelt. HNO-Ärzte hielten Tinnitus-Geräusche für die Folge einer gestörten Durchblutung im Innenohr. Mit mehr Volumen in den Blutgefäßen, so die Überlegung, ließe sich dieser Mangel beheben und der Ton zum Verschwinden bringen. Studien haben allerdings nicht belegen können, dass die Flüssigkeitszufuhr bei chronischem Tinnitus etwas nutzt.

Andere Ärzte sind von einer entzündlichen Entstehung des Tinnitus überzeugt; sei es durch Infektionen oder ein ungeklärtes Autoimmun-Geschehen, bei dem sich das Abwehrsystem gegen den eigenen Körper richtet. Daher verschreiben sie Kortison. Neurologen vermuten eher, dass eine beeinträchtigte Weiterleitung der Hörimpulse oder eine gestörte Signalverarbeitung im Gehirn zu der Dauerberieselung im Innenohr führen.

Wahrscheinlich ist an allen Erklärungsmodellen etwas dran. Da der Nutzen der pharmakologischen Therapie bisher nicht erwiesen ist, werden Medikamente zur Therapie des Tinnitus seit 2009 nicht mehr von den Krankenkassen erstattet. Für Betroffene macht das den Arztbesuch nicht leichter, denn seitdem bieten HNO-Ärzte manche ungesicherte Behandlung als IGel-Leistung an - Patienten müssen selbst zahlen, Erfolg ungewiss.

Patienten mit Tinnitus zu betreuen, ist eine Gratwanderung. "Wir üben Zuhören und zielgerichtetes Hören, begleiten die Betroffenen psychosomatisch, versuchen sie zu entängstigen und ihnen zu vermitteln, dass nichts organisch Gefährliches dahintersteckt", sagt Tinnitus-Experte Hoffmann. Andererseits kann das Leiden durchaus gefährlich werden. Manche Betroffene - unter ihnen Musiker - sind schon aus dem Fenster gesprungen, weil sie die Geräusche nicht mehr ertragen konnten.

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