Stockholm: Chemie-Nobelpreis:Eiweiß vom Fließband

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Sie haben die Werkzeuge des Lebens erforscht: Zwei Amerikaner und eine Israelin haben entdeckt, wie Ribosomen arbeiten.

Tina Baier und Katrin Blawat

Wenn Frank Schlünzen sich an seine Zusammenarbeit mit Ada Yonath erinnert, klingt er ehrlich bewundernd. "Ich glaube nicht, dass es in ihrer Zeit bei uns am Elektronen-Synchrotron eine Nacht gab, in der sie länger als eine Stunde geschlafen hat", sagt der Physiker. "Sie hatte nur eine Matratze neben dem Labor liegen."

Nicht nur Frank Schlünzen ist von der unermüdlichen Arbeit seiner ehemaligen Chefin am Hamburger Teilchenbeschleuniger Desy beeindruckt. Die Königliche Akademie der Wissenschaften Schwedens würdigt Yonaths Forschung nun mit der höchsten Auszeichnung, die in den Naturwissenschaften zu bekommen ist.

Die Israelin Ada Yonath erhält zusammen mit den Amerikanern Thomas Steitz und Venkatraman Ramakrishnan den diesjährigen Chemie-Nobelpreis. Die drei haben Struktur und Funktion der Ribosomen aufgeklärt. Sie finden sich in jeder lebenden Zelle, unabhängig davon, ob es sich um einen Cholera-Erreger, eine Rose, einen Regenwurm, einen Tiger oder einen Menschen handelt. Jedes Ribosom besteht aus hunderttausenden Atomen. Mit Hilfe der sogenannten Röntgenstrukturanalyse haben die drei Laureaten die Position jedes einzelnen dieser Atome ermittelt.

Das klingt nach zähen, sehr theoretischen und vielleicht sogar etwas langweiligen Experimenten. Doch die Arbeiten von Yonath, Steitz und Ramakrishnan haben dazu beigetragen, eine der zentralen Fragen des Lebens zu beantworten: Wo und wie entstehen aus den im Erbgut gespeicherten Informationen zehntausende von Eiweißstoffen, die das Leben ausmachen?

Hämoglobin zum Beispiel, das Sauerstoff von den Lungen im Blut durch den ganzen Körper transportiert, Antikörper, die Krankheitserreger abwehren oder Keratin, aus dem Haare und Nägel bestehen. Ribosomen sind die Übersetzungsmaschine, die aus dem Erbgut Eiweißstoffe macht.

Lange haben Forscher nicht verstanden wie die Informationen der DNS, die sich bei den meisten Tieren und Pflanzen im Zellkern, einem abgeschlossenen Bereich der Zelle, befindet, zu den Ribosomen kommen. Anfang der 1960er Jahre entdeckten Wissenschaftler, dass die Zellen Kopien des Bauplans auf der DNS anfertigen. Die Kopien, die die Forscher als Boten-RNS bezeichneten, schwimmen aus dem Zellkern hinaus. Gleitet ein solcher Bote an einem Ribosom vorbei, wird er von diesem quasi eingefangen. Ähnlich wie das Erbgutmolekül DNS besteht auch die Boten-RNS aus einer Kette mit nur vier verschiedenen "Perlen": den Aminosäuren Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Uracil (U).

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Zunächst war es den Wissenschaftlern ein Rätsel, wie lediglich vier Bausteine die Information für die verschiedenen Arten von Eiweißstoffen enthalten können, die sich aus immerhin 20 verschiedenen Aminosäuren zusammensetzen. Doch dann knackten sie den genetischen Code. Jeweils drei "Perlen" auf der Boten-RNS stehen für eine Aminosäure. Liest das Ribosom auf der eingefangenen Boten-RNS beispielsweise "UUU", sucht es die Aminosäure Phenylalanin; kommt danach die Perlenfolge "GCU", hängt es als nächstes die Aminosäure Alanin an den entstehenden Eiweißstoff.

Wie am Fließband liest das Ribosom eine Dreierkombination nach der anderen von der Boten-RNS ab. Je weiter es dabei vorankommt, umso länger wird die Aminosäurenkette, die am anderen Ende des Ribosoms entsteht - solange, bis die gesamte Boten-RNS abgelesen und der Eiweißstoff fertig ist. Wissenschaftler bezeichnen diesen Produktionsprozess in der Zelle als Translation.

Die Arbeitsweise der Ribosomen zu verstehen, hat Jahrzehnte gedauert. 20 Jahre lang forschte allein Yonath an der Aufklärung ihrer Struktur, ohne Ergebnisse zu erhalten. Für sie war das kein Grund, aufzugeben: "Ihr hervorstechendster Charakterzug ist ihre Beharrlichkeit", sagt Frank Schlünzen über die Preisträgerin, die insgesamt 22 Jahre in Deutschland geforscht hat.

Erst vor fünf Jahren kehrte sie vom Hamburger Teilchenbeschleuniger Desy zurück zu ihrer Professur für Molekularbiologie am israelischen Weizmann-Institut. Dank der Arbeiten der drei Preisträger versteht man inzwischen bis ins kleinste Detail, wie die Eiweißmaschinerie der Ribosomen arbeitet. Ein Ribosom besteht aus zwei Untereinheiten - Thomas Steitz und Venkatraman Ramakrishnan haben jeweils die Struktur einer dieser Komponenten aufgeklärt.

Der Amerikaner Venkatraman Ramakrishnan, den die meisten Kollegen nur Venki nennen, ist der jüngste der drei Preisträger. Geboren wurde er 1952 im südlichsten Zipfel Indiens, und nicht nur geographisch war es für ihn ein weiter Weg bis zur Ribosomenforschung.

In den USA promovierte er in theoretischer Physik, bevor er, nun wieder als Student, Kurse in Biologie belegte. Es schien die richtige Entscheidung gewesen zu sein, denn seither ist er seinem Forschungsthema treu geblieben. Am Labor für Molekularbiologie, das zur Universität Cambridge gehört, ist Ramakrishnan in bester Gesellschaft: 13 weitere Laureaten, unter ihnen Francis Crick und James Watson, die die Struktur des Erbgutmoleküls DNS aufgeklärt haben, stammen von hier.

Die Karriere des dritten Chemie-Nobelpreisträgers zeigt, wie sehr in der modernen Wissenschaft die Grenzen zwischen den Disziplinen verschwimmen: Der 1940 in den USA geborene Steitz promovierte in Molekularbiologie, hat heute eine Professur für Molekulare Biophysik in Yale inne - und arbeitet nebenher als Unternehmer. Denn die Arbeiten der drei Forscher haben auch ganz praktische Folgen. Da funktionierende Ribosomen für jedes Lebewesen, also auch für Krankheitserreger überlebenswichtig sind, bieten sie einen idealen Angriffspunkt für Medikamente.

Wie sich das in der Praxis umsetzen lässt, daran arbeitet unter anderen die Firma Rib-X-Pharmaceuticals, deren Mitgründer Thomas Steitz ist.

Es gibt bereits verschiedene Antibiotika, die Bakterien abtöten, indem sie ihre Ribosomen blockieren. Das funktioniert, weil sich Bakterien- und Menschen-Ribosomen in ihrem Aufbau unterscheiden. Alle drei Preisträger haben gezeigt, auf welche Weise verschiedene Antibiotika die Bakterien-Ribosomen lahmlegen: manche verstopfen den Tunnel, durch den die wachsende Aminosäurekette das Ribosom verlässt, andere hindern die Eiweißmaschine daran, Aminosäuren miteinander zu verknüpfen.

Allerdings werden immer mehr Krankheitserreger unempfindlich gegen die bereits existierenden Antibiotika. Doch seit man die Struktur der Ribosomen bis ins kleinste Detail kennt, ist es möglich, Antibiotika mit neuen Angriffspunkten zu entwickeln. Einige dieser Medikamente, die etwa multiresistente Krankheitserreger abtöten sollen, gegen die keines der herkömmlichen Mittel mehr hilft, werden bereits am Menschen erprobt.

© SZ vom 8.10.2009/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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