Rekordflieger:Interkontinentale Insekten

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Wie kommen indische Wanderlibellen auf die Malediven? Sie fliegen jedes Jahr von Indien nach Afrika und zurück, vermutet der Biologe Charles Anderson. Das wäre eine Strecke von 18.000 Kilometern.

Monika Offenberger

Jedes Jahr aufs Neue landen im Herbst plötzlich massenweise indische Wanderlibellen auf den Malediven. Die ersten treffen im Oktober ein und sind nach ein paar Tagen wieder weg. Den ganzen November über kommen neue Libellen, bis in den Dezember hinein. Die Menschen auf den Inseln nehmen kaum Notiz davon.

Indische Wanderlibelle fliegen offenbar jedes Jahr über den Indischen Ozean nach Afrika - und wieder zurück. 18.000 Kilometer würden die Libellen demnach bewältigen. (Foto: Reuters)

Bis auf einen: Den Biologen Charles Anderson faszinieren die Fluggewohnheiten von Pantala flavescens, auf Deutsch Wanderlibelle, seit mehr als 20 Jahren. Anderson ist überzeugt, dass die Malediven für die Insekten nur eine Zwischenstation für eine viel weitere, gar rekordverdächtige Reise sind. Möglicherweise fliegen die zart gebauten Insekten Jahr für Jahr über den Indischen Ozean - und wieder zurück.

18.000 Kilometer sollen die Libellen demnach bewältigen, in einer Art Staffel aus vier Generationen. Damit wären die Insekten die neuen Rekordhalter im Weitstreckenfliegen, deutlich vor dem bisherigen Spitzenreiter, dem Monarchfalter. Der fliegt jedes Jahr "nur" 7000 Kilometer zwischen den USA und Mexiko hin und her.

"Wie kommen die hierher?" fragte sich Anderson, als er im Oktober 1983 in Malé auf den Malediven zum ersten Mal einen riesigen Schwarm Libellen bemerkte. Wie stets in dieser Jahreszeit wehte der Wind kräftig aus Südwest, von Afrika her. Anderson rief seine Freunde an: "Wann tauchen die Libellen bei euch auf?"

Das Ergebnis seiner Umfrage: "In Bangalore Ende September, an der Südspitze Indiens am 12.Oktober, in Malé am 21.Oktober und am südlichsten Punkt der Malediven am 7. November. Es ist also offensichtlich, dass sie von Indien kommen. Aber das heißt: Sie kommen über den Ozean, gegen den Wind - wie in aller Welt machen sie das?"

Um das Rätsel zu lösen, ließ Anderson acht Jahre lang systematisch Anzahl und Ankunftszeiten der Libellen an bestimmten Punkten in Südindien und auf mehreren Malediven-Inseln protokollieren und verglich sie mit meteorologischen Messungen. Eine Zusammenschau dieser Daten veröffentlichte er vergangenes Jahr im Journal of Tropical Ecology.

"Die Libellen fliegen aus Indien in einer Höhe von 1000 bis 2000 Metern auf die Malediven", glaubt der Biologe. Denn nur für tiefer liegende Luftschichten gilt, dass die Monsunwinde im Herbst aus südwestlicher Richtung kommen und erst im Frühling aus Nordost wehen. Eine zweite, höher liegende Luftschicht bewegt sich in umgekehrter Richtung.

Was aber zieht die Tiere jedes Jahr Hunderte Kilometer über den Ozean an einen Ort, an dem sie sich nicht fortpflanzen können? Auf den Malediven gibt es weder Tümpel noch Seen, weil im sandigen Boden der Koralleninseln jeder Regentropfen sofort versickert. Libellen brauchen jedoch stehende Gewässer, um sich zu entwickeln. Sie leben nur als Erwachsene an Land und in der Luft; in ihrer Jugend sind sie reine Wassertiere.

Die Larven der indischen Wanderlibellen entwickeln sich in Pfützen, die sich nach dem Monsun bilden und jederzeit austrocknen können. Also steigen die Wanderlibellen nach nur sechs Wochen als fertige Insekten in die Luft. Der Monsun ist dann weiter Richtung Süden gezogen, und die frisch geschlüpften Libellen folgen ihm, bis sie Ende September die Südspitze Indiens und schließlich das offene Meer erreichen. "Von Ceylon und den indischen Westghats ziehen sie dahin in einem nicht endenden Strom der Millionen, und keine kehrt zurück... Was für eine Verschwendung von Leben!", schrieb der Insektenforscher Frederick Charles Fraser schon 1954 über das Phänomen.

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Charles Anderson hingegen entwirft ein anderes Szenario: Seiner Ansicht nach werden die Insekten von Indien aus binnen Tagen auf die Malediven geblasen. Weil sie dort keine Süßwasser-Pfützen finden, ziehen sie schon bald weiter. Nach einer kurzen Rast auf den Seychellen und Madagaskar erreichen sie im Januar Kenia oder Mosambik. Jedes neue Ziel ist den Insekten recht, denn der Monsun trägt sie automatisch dorthin, wo es regnet. Sie brauchen nur ihre Eier in die frischen Pfützen zu legen, auf dass der Nachwuchs die Wanderung fortsetzen kann. Nach vier Generationen haben es die nicht einmal fünf Zentimeter großen Tiere bis nach Südafrika geschafft.

Dort liegt der Wendepunkt ihrer Reise, denn inzwischen hat der Wind gedreht. Statt aus Nordost weht er in den hoch gelegenen Schichten nun aus Südwest. Der Wind trägt die Libellen den ganzen langen Weg zurück nach Indien, wo Monate zuvor ihre Ur-Ur-Urgroßeltern losgezogen sind. Nach einer Rundreise von 14.000 bis 18.000 Kilometern schließt sich der Kreis der Libellenwanderung. Sollten Andersons Überlegungen zutreffen, würden die Insekten mindestens 3500 Kilometer am Stück übers offene Meer fliegen.

Ernst-Gerhard Burmeister, Leiter der Abteilung Insektenkunde der Zoologischen Staatssammlung München, traut den Wanderlibellen eine derart lange Reise zu und hält Andersons Hypothese für plausibel. Martin Wikelski, Leiter des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee, warnt jedoch vor zu schnellen Schlussfolgerungen: "Das zeitgleiche Auftreten beweist nicht, dass die Libellen tatsächlich über den Ozean geflogen sind."

Auch Anderson räumt ein: "Es gibt bislang keinen direkten Beweis dafür, dass indische Wanderlibellen in Ostafrika ankommen." Stattdessen zählt der Biologe weitere Indizien auf, die seine Hypothese stützen. So passt der Zeitpunkt, zu dem große Libellenschwärme auf Madagaskar und den Seychellen eintreffen, gut zum Abflug der Libellen von den Malediven. Auch Meeresforscher melden zuweilen von ihren Schiffen auf hoher See, dass sie große Libellenschwärme gesichtet hätten.

Zudem tauchen im Mai, also mit Beginn des Südwest-Monsuns, die Insekten plötzlich wieder auf den Malediven auf. Wie zuvor im Oktober legen sie hier eine kurze Rast ein - diesmal jedoch auf dem Rückflug von Afrika nach Indien, wie Anderson vermutet.

Unterstützung für seine Hypothese bekommt der Biologe auch von Vogelforschern. Seit langem weiß man, dass viele Zugvögel auf ihrem Weg zwischen Sommer- und Winterquartier exakt dieselbe Route wählen, die Anderson den Libellen zuschreibt.

Viele dieser Vögel, etwa die Amurfalken, fliegen Afrika nicht im Norden Somalias an, obwohl das von Indien aus der nächstgelegene Punkt ist. Vielmehr landen sie weiter südlich in Somalia, Kenia oder sogar in Tansania - und fliegen dazu bis zu 4000 Kilometer übers offene Meer.

"Die Wanderung des Amurfalkens ist eines der großen ornithologischen Rätsel der heutigen Zeit", schreibt der indische Greifvogelexperte Rishad Naoroji.

Charles Anderson glaubt nun eine Erklärung gefunden zu haben: "Amurfalken und all die anderen Vögel kommen zur selben Zeit wie die Libellen mit dem Monsun über den Ozean nach Afrika. Sie nutzen die gleichen Winde und fliegen in der gleichen Höhe." Ein letztes Argument hat der Biologe noch: "All diese Vögel ernähren sich von großen Insekten. Viele von ihnen fressen bevorzugt Libellen. Ich glaube nicht an Zufälle."

© SZ vom 06.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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