Evolution des Menschen:Das Schicksal der letzten Neandertaler

Lesezeit: 4 min

Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der Steinzeitmensch seinen Verwandten vor 40.000 Jahren mit seiner Überzahl einfach verdrängt hat oder dass sich die Neandertaler den Einwanderern angeschlossen haben. Ausgerottet wurden die Neandertaler vom Homo sapiens aber offenbar nicht.

Hubert Filser

Es schien alles so gut ins Bild zu passen. Ausgerechnet am südlichen Ende Europas fanden sich die letzten Spuren der Neandertaler. In die Gorham's Höhle von Gibraltar hatte sich wohl der letzte Clan dieser Menschenart zurückgezogen. Heute branden die Wellen des Mittelmeers unter dem Höhleneingang ans Ufer.

Der Neandertaler war vielleicht zu unflexibel, um dauerhaft neben dem modernen Menschen bestehen zu können. (Foto: Federico Gambarini/dpa)

Vor 28.000 Jahren lag der Meeresspiegel hundert Meter tiefer. Damals lebten hier, im milden Klima Südeuropas, die letzten Neandertaler. Auf den Feldern wuchsen Olivenbäume, durch die locker bewaldete Küstenlandschaft zogen Rothirsche, Bergziegen und Wildrinder. Diese Tiere jagte der Neandertaler, aber auch Muscheln und Schnecken aß er. Bis in den hintersten Winkel Europas hatte der moderne Mensch seinen nächsten Verwandten getrieben, so das Bild. Überall sonst hatte ihn der überlegene Homo sapiens bereits ausgerottet.

Doch immer mehr Studien zeigen, dass diese Vorstellung kaum noch zu halten ist. Nach Schätzungen von Forschern des Leipziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie war Europa, das Kerngebiet der Neandertaler, vor 40.000 Jahren extrem dünn besiedelt. Maximal 10.000 Menschen lebten auf dem Kontinent, hat die Gruppe um Adrian Briggs anhand von Genanalysen ermittelt.

Das entspräche einem Menschen auf rund 1000 Quadratkilometern. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ständig Konflikte zwischen den Immigranten, den modernen Menschen, und den Neandertalern gab, ist also statistisch gering.

Eine neue Arbeit des britischen Anthropologen Paul Mellars stützt diese Zweifel ( Science, Bd. 333, S. 623, 2011). Demnach hat sich vor 40.000 Jahren die Bevölkerung innerhalb kurzer Zeit auf etwa 100.000 Menschen verzehnfacht. Der Anstieg sei eindeutig dem immigrierenden Homo sapiens zuzuschreiben, meint Mellars. Der Neandertaler als eigene Menschenart war nicht überlebensfähig, dafür war die Population zu klein und zu empfindlich gegenüber Klimaschwankungen. Eine drastische Abkühlung vor 40.000 Jahren machte ihm zu schaffen.

Die Fortpflanzungsrate mit einem Kind pro Frau alle vier Jahre lag sehr niedrig; Homo-sapiens-Frauen konnten jährlich ein Kind zur Welt bringen. Zudem erforderte das 200 Kubikzentimeter größere Gehirn der Neandertaler mehr Energie. Homo sapiens konnte insgesamt flexibler auf radikale Umweltveränderungen reagieren.

Für seine Untersuchungen wählte Mellars eine 75.000 Quadratkilometer große Region im Südwesten Frankreichs. Im Gebiet rund um die Dordogne mit ihren zahlreichen Kalksteinhöhlen gibt es europaweit die meisten Neandertaler- und Homo-sapiens-Fundstellen. Mellars wertete zahlreiche Details aus, zum Beispiel wie viele Steinwerkzeuge sich pro Quadratmeter fanden, wie viele abgeschabte Tierknochen die Bewohner zurückgelassen hatten und wie groß der Anteil der bewohnten Fläche in den Höhlen war - ein Indiz für die Zahl der Bewohner.

Vor allem die Zeit vor 40.000 Jahren, als der moderne Mensch auftauchte, ist entscheidend. Zu diesem Zeitpunkt fand der Übergang zwischen der Mittel- und Jungsteinzeit statt, die sich jeweils durch spezielle Werkzeugtechniken auszeichnen.

Mellars zufolge hat sich in dieser Übergangszeit die bewohnte Fläche pro Höhle von durchschnittlich 250 Quadratmeter auf mindestens 500 bis 600 Quadratmeter mehr als verdoppelt. Die Anzahl der Fundstellen habe sich um den Faktor 2,5 erhöht und die Häufigkeit der Nutzung um den Faktor 1,8.

Die Menschen beanspruchten also mehr Wohnraum in den Höhlen, erschlossen sich mehr Wohnorte und nutzten im Durchschnitt jeden Ort häufiger. Ein weiterer Vorteil des modernen Menschen war, dass offenbar in der Zeit zwischen 40.000 und 20.000 Jahren vor heute ständig neue Siedler aus Afrika nachzogen, wie jüngste Studien der Harvard-Forscher Heng Li und Richard Durbin belegen. Die rein zahlenmäßige Überlegenheit des modernen Menschen sei ein wichtiger Faktor für dessen Erfolg, schreibt Mellars.

Genau in der Übergangszeit zwischen Neandertaler und modernem Mensch gab es überall in Europa eine regelrechte Explosion der Kultur, vor allem im Gebiet der heutigen Schwäbischen Alb. Von hier stammt mit der Venus von Hohle Fels die älteste figürliche Darstellung eines Menschen. In den Höhlen Geißenklösterle und Hohle Fels tauchten die ältesten Musikinstrumente auf, Flöten, geschnitzt aus den Flügelknochen eines Singschwans.

Die Skulpturen der Menschen aus dem Urdonautal sind keine simplen Schnitzarbeiten aus Langeweile. Am rauchigen Feuer, in dem ein paar Knochen das Licht flackern ließen, haben die damaligen Menschen Meisterwerke geschaffen: einen anmutigen Wasservogel, der mit angelegten Flügeln durch die Luft zu stoßen scheint, ein Mammutkalb im leichten Galopp, einen Schneeleoparden oder eine erhabene menschliche Figur mit Löwenkopf. Weltweit ist nichts Vergleichbares bekannt. Mellars nennt die Region den "Geburtsort der Bildhauerei".

Manche Forscher glauben, die Begegnung zwischen dem groß gewachsenen, robusten Neandertaler und dem eher feingliedrigen Homo sapiens habe einen kulturellen Wettstreit entfacht und eine Art kulturelle Explosion ausgelöst, die "zum Gebrauch von Symbolen auf beiden Seiten führte", wie der französische Prähistoriker Franceso D'Errico argumentiert.

All diese Details weisen nicht auf kriegerische Auseinandersetzungen hin, für die es bislang europaweit auch keine Belege gibt. Im Gegenteil: Es fand wohl ein intensiver Austausch zwischen Neandertaler und modernem Menschen statt. Offenbar ging dieser so weit, dass sich beide Menschenarten auch paarten. Wie Leipziger Forscher um den Paläogenetiker Svante Pääbo beim Vergleich von menschlichem Erbgut und dem des Neandertalers entdeckten, stammen ein bis vier Prozent unseres Erbguts vom Neandertaler.

Die erste Begegnung geschah nach den Daten der Genetiker vor 50.000 bis 100.000 Jahren, sehr wahrscheinlich im Mittleren Osten. Kanadische Genetiker um Damian Labuda vermuten nach Untersuchungen des X-Chromosoms, dass sogar neun Prozent des Genmaterials von Homo sapiens vom Neandertaler stammen könnten.

Für den modernen Menschen war die Begegnung nicht von Nachteil, möglicherweise hat sie sogar seine erfolgreiche Ausbreitung gefördert. Homo sapiens könnte vom Neandertaler Gene bekommen haben, die sich vorteilhaft auf seine kognitiven Fähigkeiten, den Energiestoffwechsel und die Entwicklung von Skelettmerkmalen ausgewirkt haben.

Unter diesen Umständen könnte sich der Neandertaler dem modernen Menschen einfach angeschlossen haben - möglicherweise, weil er von dessen Entwicklungen profitieren konnte. Vielleicht ist also vor 40.000 Jahren der erste klassische Fall einer Assimilation passiert.

© SZ vom 29.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: