Antike in Griechenland:Sokrates: Keine Zeile verfasst und trotzdem weltberühmt

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1787 malte der französische Revolutionsmaler Jacques Louis David den "Tod des Sokrates". (Foto: imago/United Archives Internatio)

Der Philosoph ist seit Jahrtausenden bekannt, obwohl er keinen Text hinterließ. Das liegt an Platon - und an einem berühmten Römer.

Von Florian Goldmann

Sokrates war bereits für die nachgeborenen Bildhauer im alten Rom ein Mythos: Sie klopften seine Gestalt den griechischen Bronzestatuen nach, die kurz nach Sokrates' Hinrichtung entstanden waren. Ihre Plastiken sind die einzigen bis heute erhaltenen Bildnisse des Philosophen aus antiker Zeit - gerunzelte Stirn, welliger Bart, dringender Blick.

Zu Sokrates haben sich Philosophen seit je viel notiert, ihn als Idealfall von Genialität und Aufrichtigkeit verehrt. Seine Gesprächskunst würdigten sie als bedeutsame Innovation des Philosophierens. Jedoch suchte Sokrates die Wahrheit ausschließlich im Dialog mit den Bürgern der Stadt, auf den Straßen und Plätzen Athens.

Gerade deshalb erscheinen die Büsten so seltsam stumm. Worüber aber hat Sokrates, der Gesprächige, gesprochen? Dies wird eigentümlich rätselhaft bleiben: Nie hat er selbst ein Wort zu Papier gebracht.

Alles, was die Nachwelt über ihn weiß, verdankt sie seinen Zeitgenossen, allen voran den Schülern Xenophon und Platon. Platon machte den Lehrer zum Wortführer und Wahrheitsstifter in fast all seinen in Dialogform abgefassten Schriften, sicherte ihm dabei stets die Charakterrolle zu.

Mit seinem versierten Mundwerk fragt Sokrates die Athener Löcher in den Bauch, bohrt so lange, bis sie ihre Ansichten über Gerechtigkeit, Wissen oder die Seele selbst verwerfen müssen: "Sokrates", räumt Agathon in Platons "Gastmahl" ein, "ich scheine überhaupt nichts von dem zu verstehen, was ich vorhin behauptet habe."

Bei aller Direktheit der Rede, die den Querkopf Sokrates noch heute lebendig macht - Platon protokollierte nicht etwa Gespräche des Lehrers, sondern begann erst zu schreiben, als der bereits tot war. Zudem dachte Platon weitaus systematischer und umfassender.

Seine Szenen mögen durch Zeit- und Ortsangaben illustriert und neben Sokrates mit weiteren echten, oft berühmten Charakteren des damaligen Griechenlands besetzt sein. Doch ihre Verläufe sind Fiktion. Ja, Platon gebrauchte den Namen "Sokrates" für eigene Gedankengänge, verbarg sich hinter der Autorität seines Lehrers. Was dramatisch klingt, weil es sich wie antikes Theater liest, stellt Forscher vor unlösbare Probleme: Aus Sokrates spricht Platon, aus Platon Sokrates. Wo verläuft die Grenze?

Zieht man andere Quellen hinzu, ergeben sich neue, teils gegensätzliche Perspektiven auf die historische Person. Doch auch diese eint vor allem eines: Sokrates erscheint als Vehikel seiner Zeitgenossen, die ihm Dinge in den Mund legten, von denen er womöglich nie sprach. Dagegen sprechen sie von ihren eigenen Interessen.

Xenophon, Ökonom und Feldherr, ließ Sokrates in seinen Dialogen gern über wirtschaftliche und militärische Fragen streiten, Fragen, die Platon nebensächlich erschienen. Obwohl ebenfalls tief beeindruckt, betrachtete Xenophon Sokrates mehr als gewöhnlichen Mann, weniger als ein Genie.

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Der Zeitgenosse und Dichter Aristophanes schließlich wollte das Bild vollständig verdrehen. In seiner Komödie "Die Wolken" machte er Sokrates öffentlich lächerlich, denunzierte ihn als schäbigen Grübler und Sophisten, der den Leuten Abgeschmacktes für Weisheit verkauft. Das Stück spielte jenen in die Hände, die ihn später vor Gericht brachten.

Der platonische, heroische Sokrates, als den ihn die Geschichte in Erinnerung behalten hat, muss fassungslos gewesen sein. Denn er selbst verglich sich mit einer Hebamme, die den Menschen fürsorglich zur Geburt von Wissen verhalf. Diesen Sokrates meint die Welt bis auf den heutigen Tag, wenn sie vom unendlichen, ausdrücklich unentgeltlichen Ideenreichtum seines Geistes zehren will.

"Ich weiß, dass ich nichts weiß", Sokrates' berühmtester Ausspruch, bringt das Überlieferungschaos aberwitzig auf den Punkt. Wörtlich geht der Satz auf den römischen Politiker Cicero zurück. In einem seiner literarischen Dialoge lässt er ihn von dem bedeutenden Historiker Marcus Terentius Varro vortragen, der vorgibt, damit eine bekannte Sentenz des Sokrates zu zitieren.

Grundlage des vermeintlichen Zitats wiederum sind einige Textstellen in Platons "Apologie des Sokrates", die Cicero in jener Wortschöpfung aber ungenau zuspitzt. Wenigstens fügt sie sich genial ins Bild des alten Griechen, das nie durch Selbstporträts geprägt war.

Künstler stellten Sokrates hässlich dar

Im 2. Jahrhundert nach Christus kamen einige Schriftsteller auf die Idee, Briefe unter Sokrates' Namen zu verfassen. Obwohl die Stilkopien Resultate rhetorisch-literarischer Übungen waren, können sie nicht ganz ohne Wehmut über das papierene Schweigen des Meisters erfunden worden sein. Inhaltlich brachten sie nichts Neues, hangelten sich meist an den Darstellungen Xenophons und Platons entlang.

Im Grunde vervielfältigten sie nur den Eindruck, den Platon schon geprägt hatte: Sokrates ignorierte Ruhm und ernährte sich von Bescheidenheit. Agathons Einsicht des Irrtums begegnet Sokrates im "Gastmahl" deshalb cool: "Der Wahrheit kannst du nicht widersprechen, lieber Agathon. Dem Sokrates zu widersprechen ist gar nicht schwierig."

Dickliche Nase, ungepflegtes Haar, finstere Miene - Künstler stellten Sokrates in Skulpturen und auf Gemälden stets als hässlichen Mann dar. Schönheit kam für ihn von innen, wie sie wussten, aus einem reinen Herzen und einem klaren Kopf.

Der französische Maler Jacques-Louis David dachte weiter und malte Anmut und Charme des Abgangs. Sein Werk "Der Tod des Sokrates" zeigt, wie abgeklärt der über Siebzigjährige im Kreise der Freunde posierte, just bevor er den Giftbecher leerte, den man ihm angeordnet hatte. Sokrates war ein Held geworden, weil er so konsequent handelte, wie er dachte, weil er sich dem Todesurteil der Athener Oberen durch Flucht nicht entziehen wollte.

Welcher der zahlreichen Überlieferungen David anhing, ist leicht zu sehen. Sokrates habe die Jugend verblendet, die Götter nicht geehrt, lautete die Anklage. In Platons "Apologie"-Schrift verteidigt er sich mit leidenschaftlicher Rede. Vielleicht hätte er sie besser schriftlich vorgelegt.

© SZ vom 11.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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