Amoklauf in München:Massenmord, eine narzisstische Geste

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Die Zahl jugendlicher Amokläufer wird steigen. Dahinter steht ihr Neid auf die Glücklichen. Besonders unheimlich macht die Sache das immense Interesse der Medien für Tat und Täter.

Gastbeitrag von Wolfgang Schmidbauer

Nach Winnenden, Erfurt, Würzburg, nach Charleston und Columbine High School jetzt also auch München. "Sinnlose" Massenmorde durch Halbwüchsige mit automatischen Waffen gehören zu den großen Gesten in den Konsumgesellschaften des 21. Jahrhunderts. Sie werden zunehmen und uns bedrohen, bis wir ein wirksames Gegenmittel finden.

Die meisten gewissenhaften Selbstbeobachter werden zugeben, dass ihnen Mordimpulse nicht gänzlich fremd sind. Kaum einer hat das in einer so schönen Mischung von Idylle und Schauder vorgetragen wie Heinrich Heine:

"Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwas sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden." (Heine, "Gedanken und Einfälle")

Der Dichter bekennt sich zu seiner Mordlust gegen jene, die ihn gekränkt haben. Aber er nimmt die Tat nicht selbst in die Hand, er wünscht sich, dass ihm jemand die Henkersarbeit abnehmen möge. In der bürgerlichen Schicht hatte man damals noch Personal.

Rekonstruktion
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Von Lars Langenau

In den modernen Taten hat sich die Kränkungswut, die Heine durch seinen Kontrast von Bescheidenheit und Mordlust ausfaltet, zu einem Knäuel verdichtet. Massenmörder ist eine Karriere geworden. Die meisten Täter schaffen sich durch die Tat aus der physischen Welt, hoffen aber auf unsterblichen Ruhm. Diese Formen des Massenmords sind wie eine Seuche. Sie breitet sich aus. Wenn wir eine Kurve der Zahlen von Tätern und Opfern zeichnen könnten, sie würde steil ansteigen. Wo die Suche nach den Wurzeln der Tat etwas tiefer graben kann, entdeckt sie den Zusammenprall von Selbstgefühlskrisen mit dem als erlösend und ruhmreich imaginierten Endpunkt des Massenmordes. Psychologisch gesehen, geht es um die manische Abwehr einer drohenden Depression durch Rache an möglichst vielen, die sich nicht so mit der Realität quälen wie die Täter.

Das vorherrschende Gefühl in der Konsumgesellschaft, das sich immer schlechter kanalisieren lässt, ist der Neid auf die Glücklichen. Vor vierzig Jahren waren in einer durchschnittlichen Oberschulklasse noch 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit ihrem Aussehen zufrieden. Heute ist sind das nur noch fünfzig Prozent. Sich kränken und gekränkt werden nehmen rapide zu, je intensiver uns Bildschirme eine heile Welt voller schöner Menschen vorgaukeln, die attraktiv sind und attraktive Dinge tun. In dieser Zeit wurde auch "Mobbing" in Schulklassen entdeckt, ein Begriff, den wir erst seit den Neunzigerjahren auf Menschen anwenden.

Sie suchen den Tod und leugnen ihn gleichzeitig

Das Gesicht der Depression unter jungen Menschen hat sich verändert. Es wirkt inzwischen fast absurd, wenn in den Lehrbüchern der klinischen Psychologie noch steht, die allein gegen das eigene Ich gerichtete Aggression sei die wichtigste Dynamik in diesem seelischen Leiden. Inzwischen ist auch der Neid auf das Glück und die Beliebtheit der anderen unter den Depressiven verbreitet. "Der Englische Garten ist voller glücklicher Paare. Nur ich bin unglücklich und allein", sagte mir eine Patientin. Ihr Leid nähert sich schon der Wut, dass die anderen, die glücklich sind, das nur deshalb sein können, weil sie ihr dieses Glück weggenommen haben. Also ist es nur gerecht, wenn ich mich an ihnen räche. So gesehen hängt der heimliche Neid auf die Glücklichen und Beliebten eng mit dem von Terroristen geäußerten Wunsch zusammen, eine feiernde Welt, die sie und ihr Leid ignoriert, aus dieser Feierstimmung zu reißen, koste es, was es wolle.

Wer Krimis liest oder Kampfspiele am Computer klickt, weiß Bescheid über Beretta, Glock oder Heckler & Koch. Wer sie in der Hand hält, ist Herr über Leben und Tod. Diese Verführung zu beherrschen gelingt den meisten Männern und Frauen. Aber eben nicht allen. Mehr als an anderen Orten der Gesellschaft sind die jungen Massenmörder, die den Tod ebenso bereiten wie suchen, ein Zeichen für die Macht der Dinge über die Menschen. Sie sind ein Gespenst, welches die Eingeborenen einer Knopfdruck-Welt verfolgt, in der Bilder und nach den Bildern auch Menschen weggezappt werden.

Unsere Erfindungskraft hat Dinge gezeugt, welche seelische Reife blockieren und ganze Generationen verführbar machen für den schnellsten Weg aus allen Ängsten. Wer mithilfe von Dynamit der Eisenbahn den Weg frei sprengt und mithilfe von elektronischen Geräten Egoshooter-Spiele ins Kinderzimmer zaubert, denkt zuerst nicht an die Schattenseiten seiner Erfindungen. Aber inzwischen wird immer deutlicher, dass der Massenmord eine bedeutungsvolle Geste von Menschen ist, die keine andere Perspektive sehen als durch ihre Tat zu sagen: Eure Welt ist ohne Zukunft für mich, ich finde keinen Platz in ihr. Das macht mich so wütend, dass ich möglichst viele von euch töten will, ehe ich selbst draufgehe. In jeder suizidalen Fantasie Jugendlicher wird der Tod gleichzeitig gesucht und geleugnet. Es geht auch darum, anderen etwas zu zeigen, zu beweisen und Ruhm zu erwerben, Aufmerksamkeit zu haben, durch den eigenen Tod unsterblich zu sein.

Sprengstoffe und Waffen machen soziale Disziplin rückgängig. Sie wecken die Illusion einer aggressiven Allmacht. Der Mensch ist so wenig wie zum klugen Konsum von Kokain oder Opium auf Möglichkeiten gerüstet, mit einem Druck auf einen Auslöser über Leben und Tod zu herrschen. Es gibt keine einfache Kur dieser Seuche. Der Glaube an schnelle Lösungen ist ja gerade der Kern des Problems.

Bessere Ausbildung, Schutz vor Verletzungen des Selbstgefühls von Kindern, Eröffnung wirtschaftlicher Perspektiven, alles hilft ein wenig, aber sicher nicht genug. Waffen und Sprengstoffe gehören allein in die Hand der Polizei. Mordwaffen, die sich jeder (wie Breivik in Norwegen oder die Schülermörder von Erfurt und Winnenden) besorgen und dann einsetzen kann, sind ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen mehr gibt, seit die große suizidale Geste in der Welt ist. Sie machen kein Land sicherer, im Gegenteil. Sicher macht es nur der radikale Verzicht auf die Werkzeuge für den Machtrausch, den der Massenmord dem Täter verspricht.

Zu den traumatisierten Personen am Rand solcher Ereignisse zählen die Ärzte, denen die Täter früher einmal vorgestellt wurden, vor allem aber die Familienangehörigen und Freunde. An der Schweigepflicht läge es gar nicht. Die ist aufgehoben, wenn Menschenleben gefährdet sind. Aber Therapeuten müssen mit den Schuldgefühlen kämpfen, dass es ihnen nicht gelungen ist, eine wirklich hilfreiche Beziehung aufzubauen, den Verstörten nahe genug zu kommen. Es fehlt an Krankheitseinsicht und an Reflexionsmöglichkeiten. Wer alt genug ist, adoleszente Kinder zu haben, wird sich vor dem billigen Vorwurf hüten, eine Mutter, ein Vater müssten doch wissen, was sich da zusammenbraut. Es sind eben keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene auf ihrem eigenen Weg, den sie auch in weniger dramatischen Fällen mit stummer Verweigerung vor wohlmeinenden Nachfragen schützen.

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Aufmerksamkeit wirkt auf sie wie ein Magnet

Das immense Interesse der Medien für Tat und Täter allerdings macht die Sache besonders unheimlich. Aufmerksamkeit in dieser exzessiven Form wirkt auf die entsprechenden narzisstischen Störungen wie ein Magnet. In der Konsumgesellschaft sind Medienpräsenz und öffentliche Aufmerksamkeit ein Gut schlechthin, eine hoch begehrte Möglichkeit, etwas Besonderes zu sein und so dem Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und Bedeutungslosigkeit zu entrinnen. Die Massenmedien sind hier in einer bisher noch kaum bewussten und diskutierten Zwickmühle.

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Wolfgang Schmidbauer, 75, arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München. 2003 veröffentlichte er das Buch "Der Mensch als Bombe. Zur Psychologie des neuen Terrorismus."

© SZ vom 26.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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