Baustellenbesuch:Bei Stuttgart 21 muss jetzt ein Wunder geschehen

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Das umstrittenste Bahn-Großprojekt Deutschlands wird noch teurer und noch später fertig. Kritiker fühlen sich bestätigt und fordern den Baustopp. Doch das ist keine Option, wie ein Baustellen-Besuch zeigt.

Von Stefan Mayr, Stuttgart

Das größte Ungetüm in der Unterwelt zwischen Cannstatt und Untertürkheim heißt "Jumbo". Es ist dunkelrot, hat sieben Meter lange Arme und macht mächtig Krach. Auf dem linken Arm sitzt ein Arbeiter und schiebt eine Eisenstange nach der anderen auf den rechten Arm des Geräts, das die langen Stangen in eine Steinwand hineinbohrt. Dann werden die Stangen verankert. "Damit das Gebirge stehen bleibt", erklärt Bauleiter Bernd Fischer, 57.

Es ist eine harte und mühsame Arbeit, mit der sich die Männer auf der Riesenbaustelle Stuttgart 21 Zentimeter für Zentimeter durch den Untergrund bohren. Stuttgart 21 ist das wohl umstrittenste Bahnprojekt Deutschlands, gegen das sich vor sieben Jahren massiver Protest quer durch alle Bevölkerungsschichten formierte. Bei Großeinsätzen der Polizei gab es etliche Verletzte. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen wühlten das ganze Bundesland auf. Sie gelten als Mitursache für den folgenden Regierungswechsel. Mit Winfried Kretschmann wurde 2011 erstmals ein Grüner Ministerpräsident eines Bundeslandes - eine herbe Niederlage für die CDU.

Bauleiter Fischer, sein Jumbo-Bohrwagen und all die anderen 6000 Kollegen legen sich auf der Baustelle mächtig ins Zeug. Dennoch wird es wohl nichts werden mit der pünktlichen Fertigstellung im Jahr 2021. Und je länger sich das Projekt verzögert, desto mehr kostet es auch. Dafür sorgt alleine die alljährliche Teuerungsrate. Stand heute wird sich der Umbau des Bahnknotens um mindestens zwei Jahre verzögern, und die Kosten werden wohl über die bisher veranschlagten 6,5 Milliarden Euro wachsen.

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Derzeit lässt die Deutsche Bahn die Kosten und den Zeitplan für ihr Großprojekt von externen Gutachtern überprüfen. Das Ergebnis soll Mitte Dezember dem Aufsichtsrat vorgelegt werden. Grund der neuerlichen Prüfung: Bei Ausschreibungen weiterer Bauarbeiten sind die Preise wegen des generellen Baubooms explodiert. Die Bahn erhielt Angebote, die laut Infrastruktur-Vorstand Ronald Pofalla "exorbitant" von ihren Kalkulationen abwichen. Dennoch hat die Bahn die Arbeiten vergeben. Denn eine neuerliche Ausschreibung hätte den Bau um Jahre verzögert und noch mehr Kosten verursacht, so Pofalla.

Während nun alle auf das Gutachten warten, äußert sich bei der Bahn niemand offiziell zu dem Thema. Das bleibt Vorstandssache. Aber wer eins und eins zusammenzählt und sich auf der Baustelle umsieht und umhört, der kommt zu einem klaren Ergebnis: Es müsste schon ein Wunder geschehen, damit Stuttgart 21 im Jahr 2023 in Betrieb gehen kann, und damit der ohnehin schon nachträglich erhöhte Kostenrahmen von 6,5 Milliarden Euro eingehalten werden kann.

Ursprünglich sollte das Projekt 4,5 Milliarden Euro kosten und 2021 fertig sein. Dieser Plan ist längst nicht mehr zu halten, das hatte die Bahn erstmals 2016 indirekt eingeräumt; Sie wolle fortan einen Zeitrückstand von 24 Monaten und eine halbe Milliarde einsparen, um Ende 2021 einigermaßen akkurat fertig zu werden, hieß es damals. Inzwischen muss man vom Gegenteil ausgehen: Es dauert noch länger - und wird noch viel teurer.

Damit teilt "S 21" das Schicksal mit der Flughafenbaustelle "BER" in Berlin, die schon seit Jahren fertig sein müsste und sich zur unendlichen Geschichte entwickelt. Wie der Neubau in Berlin ist auch das Bahnprojekt in Stuttgart umstritten, und man fragt sich: Sind große Infrastruktur-Projekte in Deutschland überhaupt noch machbar?

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Nun gibt es allerdings große Unterschiede zwischen Berlin und Stuttgart: Dort geht es um den Neubau auf der grünen Wiese, hier um das Untergraben einer Stadt sowie ihrer benachbarten Berge. Stuttgart 21 besteht aus ganz vielen Baustellen: Hier werden zwölf Tunnel mit einer Gesamtlänge von 59 Kilometern gebohrt. Vier Bahnhöfe werden neu gebaut und vier Gleise unter dem Neckar verlegt. Und das denkmalgeschützte Gebäude der Alten Bahndirektion wurde ausgegraben und auf Stelzen gestellt, um es auf einem fertigen Tunnel wieder abzulegen.

Dennoch stellt sich die Frage, was der Bahn-Aufsichtsrat mit dem Gutachten machen wird. Das Aktionsbündnis der Projektgegner spricht von der "Vorbereitung für den nächsten Offenbarungseid". Die Kritiker fordern, den Bau einzustellen, weil die Wirtschaftlichkeit nicht mehr gegeben sei. Aber damit ist nicht zu rechnen. Dazu ist der Bau zu weit fortgeschritten. Denn die Bahn muss auch berücksichtigen, was wirtschaftlicher ist: Ausstieg oder Weiterbau? Selbst wenn das Projekt am Ende ein Verlustgeschäft sein sollte - der Abbruch wäre wohl noch viel teurer. Dazu komme, sagen Befürworter, der volkswirtschaftliche Nutzen; Die Fahrtzeiten werden kürzer und im Stadtzentrum fallen 100 Hektar Gleisfläche weg, die man im engen Talkessel sinnvoll nutzen könne.

Von den 59 Tunnelkilometern sind immerhin schon 60 Prozent vorgetrieben. Erst im Oktober haben Bernd Fischer und sein Team einen neuen Durchbruch gefeiert. Teilweise ist sogar schon die Beton-Innenschicht fertig, an der die Züge vorbeirauschen werden. An anderer Stelle stocken die Arbeiten hingegen. Etwa am Neckarufer, wo Bäume stehen, auf denen der geschützte Juchtenkäfer vermutet wird. "Hier haben wir schon vor zweieinhalb Jahren beantragt, dass wir sechs Juchtenkäfer-Verdachtsbäume fällen dürfen", berichtet Projekt-Chef Manfred Leger. Er sehnt die Genehmigung der EU-Kommission herbei. Denn die Bäume dürfen nur in der vegetationsfreien Zeit gefällt werden, sagt Leger. "Wenn wir bis Februar keine Entscheidung haben, verlieren wir wieder mindestens ein halbes Jahr."

Davon ungeachtet arbeiten sie unten im Tunnel auch nachts weiter, um Zeit aufzuholen. Wenn der rote Jumbo fertig ist, kommt der harmloser wirkende gelbe Bagger zum Einsatz. Er bohrt seinen "Löffel" in die Wand und trägt das Gestein ab. Was Bauleiter Fischer zur drohenden Verspätung sagt? Er schmunzelt und brummt: "Wir sind im Zeitplan." Das gilt allerdings nur für seinen "kleinen Teilbereich".

© SZ vom 15.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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