Kalte Progression:Das aufgepumpte Monster

Volle Innenstadt zu Ostern

Wie stark die kalte Progression den Einzelnen belastet, ändert sich Jahr für Jahr und hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Teuerungsrate (im Bild: Passanten in der Leipziger Fußgängerzone)

(Foto: dpa)

Weniger Netto vom Brutto nach einer Lohnerhöhung - so wird das Ergebnis der kalten Progression oft fälschlicherweise beschrieben. Aber die Realität ist komplexer. Wie stark die Belastung durch die Progression wirklich ist und was die Politik tun könnte. Ein Steuerkompass.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Wenn das Getöse, das jemand veranstaltet, tatsächlich Ausdruck realer Größe wäre, dann wäre manch nachtaktive Mücke wahrlich ein Elefant und Lothar Matthäus längst Bundestrainer. Ein bisschen so ist es auch mit der kalten Progression, jenem unseligen Zusammenwirken von geltendem Einkommensteuertarif und Inflation, die sich in den letzten Wochen unter tätiger Mithilfe von Politikern aller Gewichtsklassen zum scheinbar bedeutendsten Problem der Menschheit aufgepumpt hat.

An diesem Donnerstag werden die Festspiele ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen, wenn nämlich der Arbeitskreis Steuerschätzung seine neue Vorhersage abgibt. Auch wenn die Prognosen noch ein wenig differieren, ist bereits klar: Allein 2014 und 2015 kann der Staat mit Zusatzeinnahmen von insgesamt etwa zehn Milliarden Euro rechnen, bis 2018 könnten mehr als 40 Milliarden zusammenkommen. Es wäre also Geld da, um der vermaledeiten kalten Progression endlich den Garaus zu machen.

Dabei haben viele der eifrigen Diskutanten in Wahrheit noch nicht einmal das Problem verstanden. So heißt es immer wieder, die kalte Progression führe dazu, dass ein Beschäftigter nach einer Bruttolohnerhöhung netto am Ende weniger in der Tasche habe als vorher. Man muss nicht Mathematik studiert haben, um zu verstehen, dass das nicht sein kann, solange der Steuersatz unter 100 Prozent liegt. Aber die Geschichte klingt zu gut, um sie aufzugeben.

Die Wirklichkeit ist komplexer

Wie so häufig, ist die Wirklichkeit komplexer. Zunächst einmal ist es so, dass der progressive Steuertarif - also ein mit wachsendem Einkommen steigender Durchschnittssteuersatz - nicht etwa ein Unfall, sondern im Gegenteil gewollt ist. Dahinter steht die Idee, dass jemand, der 60 000 Euro brutto im Jahr verdient, einen größeren Teil an die Allgemeinheit abtreten kann als jener, der 30 000 Euro erhält. Man spricht von einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Dabei gilt auch für letztgenannten Arbeitnehmer: Steigt sein Salär auf 31 000 Euro, steigt auch sein individueller Durchschnittssteuersatz leicht an.

Zu einem Problem wird dieser gewollte Mechanismus erst, wenn die Inflation ins Spiel kommt. Oft ist es nämlich so, dass die Bruttolohnerhöhung zum Teil oder sogar in Gänze von der Teuerungsrate aufgefressen wird. Der Arbeitnehmer kann sich also von seinem Geld nicht mehr kaufen als vor dem Tarifabschluss, seine Leistungsfähigkeit hat sich bei realer Betrachtung nicht erhöht. Wohl aber sein Durchschnittssteuersatz! Erst in diesem Moment wird aus der gewünschten die "kalte" Progression.

Wie stark dieser Effekt den Einzelnen belastet, ändert sich Jahr für Jahr. 2013 etwa fielen die Lohnabschlüsse vergleichsweise hoch aus, während die Inflationsrate sehr niedrig war. Zudem wurde zum Jahreswechsel 2013/14 der steuerliche Grundfreibetrag aus rechtlichen Gründen um 2,8 Prozent angehoben. Angesichts solcher Rahmendaten fiel das aufgepumpte Monster kalte Progression beinahe vollständig in sich zusammen: Wer dieses Jahr 30 000 Euro nach Hause bringt, der wird, gemessen am Vorjahr, mit exakt zwei Euro belastet - also mit 17 Cent im Monat. Verdient jemand 60 000 Euro, schlägt die sogenannte heimliche Steuererhöhung mit 55 Euro zu Buche, wie der Steuerexperte Frank Hechtner von der Freien Universität Berlin berechnet hat. Von einem Problem, das die hitzige Diskussion dieser Tage auch nur ansatzweise rechtfertigt, also keine Spur.

Konkret betrachtet Hechtner den Fall eines Singles, dessen Lohn Anfang 2014 um drei Prozent auf 30 000 Euro angehoben wurde; die Inflation liegt bei 1,3 Prozent. Von den knapp 900 Euro Zusatzverdienst kommen ihm 148 Euro durch die normale Steuerprogression sowie kleinere Rechtsänderungen und die besagten zwei Euro durch die kalte Progression abhanden. Netto hat er also 724 Euro mehr in der Tasche. Verdient der Arbeitnehmer 60 000 Euro, kassiert der Staat regulär 466 Euro und via heimliche Steuererhöhung weitere 55 Euro. Netto verbleiben 1226 Euro. Hechtners Fazit: "In der öffentlichen Debatte wird die kalte Progression derzeit häufig dazu missbraucht, um Forderungen nach allgemeinen Steuerentlastungen zu begründen."

Für Steuersenkungen ist kein Geld da - denn es ist längst verplant

Anders sieht die Sache aus, wenn die Lohnabschlüsse niedriger, die Inflationsraten höher und die betrachteten Zeiträume länger ausfallen. Misst man die aktuelle Belastung statt an 2013 an der von 2010 - 2009 wurden die Steuersätze zuletzt gesenkt -, dann hat der Arbeitnehmer mit 30 000 Einkommen durch die kalte Progression im gesamten Zeitraum 412 Euro verloren. Den Kollegen mit 60 000 Euro Jahresverdienst kosteten die heimlichen Steuererhöhungen sogar fast 1321 Euro - also einen schönen kleinen Urlaub.

Beheben ließe sich das Problem, indem man den Steuertarif regelmäßig um die Inflation bereinigt. Es entstünde ein sogenannter "Tarif auf Rädern". Man stelle sich vor, die Teuerung läge konstant bei zwei Prozent, entsprechend würden die Eckwerte des Tarifs Jahr um Jahr angepasst: 2024 würde der Eingangssteuersatz von 14 Prozent dann erst ab 10 185 Euro und nicht wie heute schon bei 8355 Euro greifen; der darunter liegende Verdienst wäre komplett steuerfrei. Und auch der Spitzensteuersatz von 42 Prozent käme statt bei 52 883 erst bei 64 464 Euro zum Tragen.

Das klingt gut - nur nicht für die Bundesregierung: Sie nämlich hat die angeblich ungewollten Einnahmen aus der kalten Progression auf Jahre hinaus längst verplant und müsste die Mittel für die Beseitigung des Phänomens erst einmal auftreiben. Im ersten Jahr bräuchte sie nach einer Faustformel drei Milliarden Euro, im zweiten sechs Milliarden, im dritten neun Milliarden und so fort. Begänne sie 2015, müssten sich Bund, Länder und Gemeinden also bis 2018 auf kumulierte Mindereinnahmen von 30 Milliarden Euro einstellen.

Kein Wunder also, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Steuersenker in den eigenen Reihen intern zurückgepfiffen und ihnen klargemacht hat, dass kein Geld da ist - es sei denn, die Steuerschätzung in dieser Woche fördere zusätzliche Einnahmen zu Tage. Der Haken an der Sache: Auch den Großteil dieser Mehrerlöse haben die Bildungs-, die Verkehrs- und die Sozialpolitiker des Landes - zumindest gedanklich - schon drei Mal wieder ausgegeben.

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