22 Jahre Wiedervereinigung:Warum der Westen dem Osten noch immer überlegen ist

Trotz aller Anstrengungen, der wirtschaftliche Ausgleich zwischen Ost- und Westdeutschland kommt nicht voran. Zwar wächst der Osten dynamischer, dennoch verliert er an Boden. Zu kleine Unternehmen, zu wenig Forschung - das sind nur einige der Probleme. Geht die Entwicklung so weiter, wird der Osten für immer hinter dem Westen zurückbleiben.

Steffen Uhlmann, Berlin

Der Osten wächst dynamischer als der Westen und wird dennoch von diesem immer weiter abgehängt.

Paradox? Nein, Ergebnis der Statistik, je nach Fragestellung. Zum Beispiel die arbeitgebernahe Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM): Sie zeigt in ihrem jährlichen "Bundesländerranking", dass sich Deutschlands Osten im bundesweiten Vergleich deutlich temporeicher entwickelt als der Westen. Letztjähriger Dynamiksieger war dabei vor allen anderen ostdeutschen Ländern Brandenburg, wo die Steuerkraft zwischen 2007 und 2010 um 16 Prozent und die Zahl der Jobs um 5,4 Prozentpunkte stieg. Den Brandenburgern folgten im Dynamikranking Berlin, Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, gefolgt von dem ersten westdeutschen Land, dem Stadtstaat Hamburg.

Diese Dynamik hat dem Osten allerdings wenig genutzt. Schon bei der Parallelauswertung der INSM, dem "Bestandsranking", rangieren die ostdeutschen Länder weit hinten. Schlimmer noch: Sie verlieren wieder an Boden. "Wieder", weil es zwischenzeitlich besser ausgesehen hatte. In den Krisenjahren ab 2008 hatte der Osten, relativ betrachtet, aufgeholt. Die geringere Exportorientierung hatte damals viele ostdeutsche Unternehmen vor einem stärkeren Geschäftseinbruch bewahrt.

Kaum war der Aufschwung zurück, gewaltiger bekanntlich als je erwartet, zog der Westen wieder davon. So steht es auch im soeben veröffentlichten "Bericht zum Stand der Deutschen Einheit". Danach lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahre 2011 im Osten bei 71 Prozent des westdeutschen Niveaus; im Jahr zuvor waren es noch 73 Prozent gewesen.

Diese Entwicklung setzt sich nach vorläufigen Berechnungen auch im laufenden Jahr fort. Die ostdeutsche Wirtschaft wuchs im ersten Halbjahr 2012 um ein halbes Prozent, die in Westdeutschland um mehr als das Doppelte. Damit sei auch klar, wie unrealistisch das Ziel einer schnelleren Ost-West Angleichung bleibe, sagt Udo Ludwig, Konjunkturexperte des Hallenser IWH-Instituts. "Die scheinbare Angleichung in Krisenjahren zuvor war nur eine Episode."

Der Osten benötigt weiter Hilfe

Im Aufschwung leidet der Osten wieder unter seinen fundamentalen Schwächen: die Kleinteiligkeit des Mittelstandes und die damit verbundene Innovations- und Exportschwäche, das Fehlen von Führungszentralen und von originären ostdeutschen Großunternehmen, die Alterung und den Rückgang der Einwohnerzahlen in den neuen Bundesländern. Geht diese Entwicklung der jeweiligen Wirtschaftsleistung so weiter, wird der Osten für immer hinten bleiben.

Das einst von der Politik ausgerufene und im Grundgesetz verankerte Einheitsziel? Makulatur!

Zwar existieren dynamische Wachstumszentren wie Chemnitz, Dresden, Leipzig oder Jena, aber insgesamt ist die ostdeutsche Wirtschaft nicht in der Lage, ihre Wachstumsschwäche zu überwinden. Der Osten benötigt weiter Hilfen und finanzielle Transfers - sogar über das magische Jahr 2019 hinaus, in dem die Solidarpaktmittel auslaufen.

Diese Forderung ist heikel, seit immer mehr westdeutsche Kommunen den Aufstand gegen die West-Ost- Transfers proben: in Nordrhein-Westfalen ist das schon fast ein Volkssport. Dennoch wird es eine Anschlussförderung für den Osten nach 2019 geben müssen, will man die Angleichung der ostdeutschen Lebensverhältnisse an das westdeutsche Durchschnittsniveau nicht endgültig aufgeben.

Matthias Platzeck (SPD), Ministerpräsident des "Dynamik-Siegers" Brandenburg, hat sich dazu vor dem Einheitstag aus der Deckung gewagt. Auch nach dem Auslaufen des Solidarpakts 2019, so Platzeck, müsse es ein solidarisches System der Bund-Länder-Finanzierung geben. Platzeck greift damit nur auf, was knapp 90 Prozent der 55 jüngst von der Friedrich-Ebert-Stiftung befragten Experten fordern: eine weitere Sonderförderung für den Osten nach 2019, wie sie dann immer auch heißen mag.

Zu viele Imbissbuden zu wenige Juweliere

23 Jahre nach der Wende ist die ostdeutsche Wirtschaft immer noch nicht groß und damit erwachsen geworden. Die Strategie der Treuhand, schnell zu privatisieren, wirkt nach, und sie wirkt verheerend. Sie hat im Osten eine viel zu kleinteilige Unternehmenslandschaft geschaffen, die anfangs noch weitgehend industriefrei gewesen ist. Das aktuelle Ranking der 100 größten Ost-Firmen ist zwar nur eine unvollständige Momentaufnahme der aktuellen ostdeutschen Unternehmenslandschaft, weist aber auf das Dauerdilemma in Ostdeutschland hin. Denn im Vergleich zu früheren Erhebungen gibt es kaum Veränderungen in der Unternehmens- und Branchenstruktur - angeführt von der Deutschen Bahn dominieren Handels- und Dienstleistungskonzerne, die ihre Firmenzentralen fast ausschließlich in Westdeutschland haben. Mit allen Nachteilen für Beschäftigung, Sozialstruktur, Innovationsgeschehen und den deutsch-deutschen Angleichungsprozess.

Daran hat sich auch mit der zumindest zeitweiligen industriellen Renaissance in den neuen Bundesländern nichts geändert. Am Ende der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts weisen im Westen über 65 Prozent der Unternehmen Jahresumsätze von mehr als 50 Millionen Euro aus. In Ostdeutschland beträgt dieser Anteil nicht einmal 45 Prozent. Und wenn Firmen im industriellen Bereich, wie etwa die Autoindustrie, im Osten groß geworden sind, dann dienen sie zumeist nur als verlängerte Werkbänke von West-Konzernen, deren Leistungen dann zwangsläufig auch zurück in den Westen fließen. Kein einziger der großen deutschen Konzerne (mit Ausnahme der Deutschen Bahn in Berlin) hat seinen Hauptsitz im Osten.

So wird in den ostdeutschen Töchtern auch kaum geforscht, weil Forschung zumeist direkt an die Konzernzentralen angebunden ist. Nach Erhebungen des Stifterverbandes der deutschen Wirtschaft liegen die internen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen der Unternehmen in Baden-Württemberg, dem deutschen Spitzenreiter, bei rund 1 100 Euro je Einwohner. In Sachsen, dem führenden neuen Bundesland, sind es etwa 230 Euro, in Thüringen knapp 200 Euro, in Sachsen-Anhalt nur 70 Euro und Brandenburg sowie in Mecklenburg-Vorpommern sind es gar nur 60 Euro. Das aber hat nicht nur dramatische Folgen für die wirtschaftliche, sondern auch für die soziale Wachstumsdynamik. Denn damit fehlen auch die gut bezahlten Arbeitsplätze, die damit verbundenen höheren Einkommen und höherwertigen Geschäfte.

Kurz gesagt: Es gibt im Osten zu viele Imbissbuden und zu wenig Juweliere.

Aber es gibt auch gegenläufige Tendenzen. Seit 2000 hat sich die Zahl der innovativen, forschenden Firmen von 3200 auf 4200 erhöht. Gerade sie will die Bundesregierung verstärkt fördern und hat dazu jetzt das eine halbe Milliarde Euro schwere Programm "Zwanzig20 - Partnerschaft für Innovation" aufgelegt. Solche Hilfen der öffentlichen Hand aber sind umstritten - wie man bei den subventionsgetriebenen Industrieclustern für neue Hochtechnologien sieht, die sich im Osten herausgebildet haben. So stehen das "Chipwunder" von Dresden und das mitteldeutsche Solar Valley bei allen zwischenzeitlichen Erfolgen heute auch dafür, welche fatale Folgen staatliche Förderung erzeugen kann: Der mit staatlicher Kapitalförderung uagepumpte Speicherchip-Hersteller Qimonda aus Dresden versuchte im Hochlohnland Deutschland, Massenprodukte in Konkurrenz zu Niedriglohnländern zu produzieren und scheiterte jämmerlich, weil seine Innovationsfähigkeit viel zu gering war.

Das gleiche Schicksal droht nun der mit gewaltigen Subventionen gepäppelten Solarindustrie in Ostdeutschland, die es nicht geschafft hat, ihre einst erzielte Technologieführerschaft gegenüber der asiatischen Konkurrenz zu behaupten oder gar auszubauen. Umso härter trifft sie nun die klassische Überproduktionskrise, die über kurz oder lang zu einem drastischen Ausleseprozess führen wird. Offen bleibt, wer von den einstigen ostdeutschen Vorzeige- Solarfirmen diesen harten Schnitt überleben wird.

Träumen ist erlaubt

Kenner Ostdeutschlands wie der einstige Deutschbanker Edgar Most fordern seit langem, die deutsch-deutsche Einheit "neu" zu denken. Dazu gehöre auch, die noch vorhandenen Fördermittel umzuleiten und stärker auf solche Gebiete wie Bildung und Forschung zu fokussieren. Hinzu müssten nach Most Anreizprogramme für abgewanderte Jugendliche kommen, um sie zu einer Rückkehr zu bewegen. Darum kümmern sich die ostdeutschen Länder jetzt verstärkt und sie haben auch erste Erfolge damit. 2011 zogen erstmalig mehr Menschen für einen neuen Job von den alten in die neuen Länder. Das gilt besonders für wirtschaftlich wachsende Stadtregionen wie Leipzig oder Dresden. Grund für ihre Anstrengungen ist, dass zwar in den neuen Ländern hochqualifizierte Arbeitsplätze entstehen, für die es aber im vergreisenden Ostdeutschland keinen Nachwuchs mehr gibt.

Vor allem kleine und mittlere Betriebe suchen händeringend qualifiziertes Personal und finden für die eigene Lehrlingsausbildung kaum noch geeigneten Bewerber.

Westdeutsche Großunternehmen wiederum müssen nach Auffassung von Wirtschaftsexperten dazu stimuliert werden, ihre hochproduktiven ostdeutschen Werkbänke in lebendige Tochterunternehmen umzugestalten. Deren Wertschöpfung müsse dann vorrangig im Osten verbleiben, damit diese Firmen nicht nur hinsichtlich Beschäftigung, sondern auch hinsichtlich Wertschöpfung im Osten wirksam werden. Das könnte man, so Most, durch steuerliche Begünstigungen erreichen. "Das würde dann beiden Teilen Deutschlands zugute kommen - in dem Maße, wie die Nettoerlöse im Osten verbleiben, kann der West-Finanztransfer in den Osten reduziert werden." Im Alleingang, da sind sich alle Experten einig, wird der Osten nicht wirklich reüssieren und zum Westen aufschließen können. Gebraucht werde eine neue Investorenwelle, heißt es.

Dafür aber müsse der Osten weit attraktiver für nationales und internationales Kapital werden. Eines steht fest: Ehe an die Spitze der ostdeutschen Top 100 ein deutscher oder gar internationaler Großkonzern mit Zentrale im Osten rückt, werden im günstigsten Fall noch Jahrzehnte vergehen.

Träumen kann man ja schon mal.

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