Arbeitslos trotz Aufschwung:Einfach durchs Raster gefallen

Lesezeit: 3 min

Die Zahl der Arbeitslosen ist unter die Drei-Millionen-Marke gerutscht - auf den niedrigsten Stand seit 1992. Doch die meisten Betroffenen profitieren nicht vom Aufschwung. Wer länger als ein Jahr ohne Job bleibt, wird zum Hartz-IV-Fall.

Uwe Ritzer, Nürnberg

Sie ist von Haus aus ein sehr hektischer Mensch und mit jeder Zurückweisung, jeder Absage und jeder nicht einmal beantworteten Bewerbung wird sie noch hektischer. Das hat mit steigender Nervosität zu tun, mit wachsender Unsicherheit und damit, dass das Selbstwertgefühl von Carolin Bogner allmählich gegen null tendiert. Deswegen will sie auch ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen.

Die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen im Überblick. (Foto: N/A)

Jahrzehntelang verlief ihr Leben in geordneten Bahnen. Sie arbeitete als Trainerin in einem Fitnessstudio. Bis sie sich nach langen, quälenden Auseinandersetzungen endgültig mit dem Eigentümer zerstritt. Und anschließend keine neue Arbeit mehr fand. Man braucht nicht viele Fitnesstrainerinnen auf dem flachen Land in Franken, erst recht nicht, wenn sie schon in den Fünfzigern sind.

Carolin Bogner lebt allein. Fitnesstrainerin ist kein staatlich anerkannter Beruf, und weil sie nichts anderes gelernt hat, verfügt sie über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das verringert - neben ihrem Alter - ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt ungemein. Ganz abgesehen davon, dass bei Bewerbungsgesprächen nicht motiviert auftreten kann, wessen Selbstwertgefühl daniederliegt. Geschieht nicht bald ein kleines Wunder, wird Carolin Bogner zum Hartz-IV-Fall und das womöglich dauerhaft.

"Hartz IV hat viel mit niedrigem Bildungsniveau zu tun", sagt Ilona Mirtschin von der Bundesagentur für Arbeit (BA). Jeder fünfte Hartz-IV-Empfänger hat keinen Schulabschluss und mehr als die Hälfte hat keine abgeschlossene Ausbildung. Wie Carolin Bogner. "Genau für solche Geringqualifizierte fehlen aber die Stellen auf dem Arbeitsmarkt", sagt Mirtschin.

"Mir hilft es nichts, wenn die Arbeitslosenzahl auf unter drei Millionen sinkt", sagt Carolin Bogner bitter. Die Politik jedoch jubelt. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen gab die Oktober-Zahl von 2,94 Millionen Erwerbslosen am Mittwoch in Berlin vorab bekannt; eigentlich ist das die Sache von BA-Chef Frank-Jürgen Weise, der die Arbeitsmarktdaten erst an diesem Donnerstag präsentieren wird. Wer sind aber diese knapp drei Millionen Menschen, die selbst in wirtschaftlich florierenden Zeiten wie diesen keine Stelle finden?

Ein knappes Drittel von ihnen bekommt Arbeitslosengeld I. Die Chancen dieser Menschen stehen gut; die meisten von ihnen finden binnen weniger Wochen oder Monate eine Stelle. Nur fünf Prozent von ihnen sind ohne Schulabschluss und nur ein Fünftel ohne abgeschlossene Ausbildung. Wer aber länger als ein Jahr ohne Job bleibt, wird zum Hartz-IV-Fall. Gut zwei Drittel der knapp drei Millionen Arbeitslosen fallen in diese Kategorie. Neben der erwähnten schlechten Qualifikation schleppen sie oft auch spezifische Probleme mit sich, etwa in der sprachlichen Verständigung. So liegt beispielsweise der Ausländeranteil bei Hartz-IV-Empfängern bei 19 Prozent, während er bei Beziehern von Arbeitslosengeld I bei lediglich neun Prozent liegt.

Euphorie? Welche Euphorie?

So verweigert sich Frank-Jürgen Weise, Chef der BA, seit Monaten konsequent der allgemeinen Euphorie am Arbeitsmarkt und in der Politik. Man werde noch sehr lange mit vielen schwierigen Fällen unter den Erwerbslosen kämpfen, sagt Weise. Die Drei-Millionen-Marke ist für ihn "nur eine mathematische Größe, die für Politik und Medien wichtig sein mag, aber nicht für uns".

Tatsächlich sind in Deutschland ohnehin weit mehr Menschen als die 2,94 Millionen registrierten Arbeitslosen ohne Beschäftigung. Sie sind nur aus der Statistik gefallen. Weil sie gerade eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme absolvieren. Oder weil sie nicht nur arbeitslos, sondern auch 58 Jahre oder älter sind. Auch Ein-Euro-Jobber oder kranke Erwerbslose fallen aus der Statistik. Kurzum: Jeder, der aktuell nicht für eine Vermittlung in Arbeit zur Verfügung steht. "Unterbeschäftigte" nennt sie die BA. Im September waren es 1,1 Millionen.

Es spricht für die BA, dass sie die Zahl der Unterbeschäftigten seit einiger Zeit veröffentlicht. Man hat der BA schon oft Zahlentricksereien vorgeworfen. Bisweilen zu Recht, wobei statistische Schönheitsoperationen bisweilen von der jeweiligen Bundesregierung ausgingen. Denn je niedriger die Arbeitslosenzahl, desto leichter lässt sich regieren. International kann sich die statistische Transparenz der BA inzwischen sehen lassen. Wer in ihre Zahlenberge tiefer einsteigt, erfährt viel über die sozialen Verhältnisse im Land. So zum Beispiel, dass mehr als fünf Millionen Menschen auf Arbeitslosengeld oder Hartz IV angewiesen sind.

© SZ vom 28.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Städte im Vergleich
:Die große Angst vor der Armut

Arbeitslos, Hartz IV, Unterschicht: Die Gefahr in Deutschland zu verarmen, ist in den Großstädten am höchsten. Die deutschen Metropolen im Vergleich.

In Bildern.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: