Männerwaden:Beinlich, beinlich

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Zur Tracht der Alphornbläser gehören Wollstrümpfe. (Foto: Joern Rynio/plainpicture)

Von den Beinen der trojanischen Krieger bis zu Cristiano Ronaldos Betonhaxen: Die Männerwade wurde lange unterschätzt. Bei der WM rückt sie endlich wieder ins Blickfeld.

Von Silke Wichert

Die männliche Körperpartie, die wir in den nächsten Wochen am meisten anschauen werden? Nicht der Kopf und die Frisur darauf, obwohl das bei einer Fußball-WM natürlich auch immer irre interessant ist, wer da welche Stelle ausrasiert hat und ob der notorische Undercut jetzt endlich unten durch ist.

Vor allem aber sehen wir: Beine, Beine, Beine. Genauer: Waden, Waden, Waden. Denn da, wo sie sind, ist der Ball. Oder auch nicht, weshalb das Reingrätschen eines Spielers in die Beine des anderen dann als Foul zählt und im Fernsehen aus sämtlichen Kameraperspektiven mehrmals wiederholt wird. Stutzen knallen in Super-Zeitlupe gegen Stutzen. 90 Minuten gewaltiges Beingemenge. Oft sind Fußballerwaden Gegenstand großer Sorge. Zwickt sie? Hält sie? Bei der EM 2008 zog sich Michael Ballack vor dem Finale eine Entzündung im Unterschenkel zu, woraufhin ganz Deutschland tagelang um die "Wade der Nation" zitterte. Am Ende hielt sie bekanntlich nicht durch.

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Kurz vor dem Fußballturnier in Russland wurde die deutsche Nationalmannschaft mal wieder zeitgemäß ausstaffiert. Die Anzughosen mit Tunnelzugbund sind dabei nicht mal das überraschendste Detail.

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Ästhetisch gesehen ist die Wade vollkommen unterschätzt. Dabei sind all die tänzelnden, hochgezüchteten Spielerbeine ja auch ziemlich toll anzusehen. Im Alltag hört man aber nie jemanden sagen: "Hurra, endlich Shorts-Saison!" Nein, es gibt höchstens die Ermahnung, dass Männer auch im Sommer keine kurzen Hosen im Büro tragen sollten. Der Anblick sei zu haarig, zu grobschlächtig, eine Zumutung. Nicht, dass es an Frauenwaden kein Herummäkeln gäbe. Aber das Verhüllungsgebot für das männliche Bein ist viel grundsätzlicher. Und das ist erstaunlich, weil Männer früher mehr Bein zeigten als Frauen.

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(Foto: gemeinfrei)

Formvollendet: Juan de Austria, 1575 porträtiert von Juan Pantoja de la Cruz.

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(Foto: Prada)

Shorts aus der aktuellen Prada- Kollektion.

Man muss sich nur ein paar Gemälde aus der spanischen oder italienischen Renaissance ins Gedächtnis rufen - was trugen all die Infanten, die Könige, die bedeutenden Männer da noch mal, wenn sie für ihr Porträt posierten? Knappe Höschen, die das Bein in Szene setzen. Zu farbigen Strümpfen wurden zierliche Schuhe in der gleichen Farbe kombiniert, um die Linie optisch noch zu verlängern. Fast schon wie eine Persiflage auf alte Männlichkeitsbilder wirkt für heutige Betrachter das berühmte Gemälde des französischen Königs Ludwig XIV. aus dem Jahr 1701 - der Maler Hyacinthe Rigaud zeigt uns den Herrscher in selbstverliebter Pose. Und was sehen wir unter dem blauen Hermelinmantel? Schlanke Beine in weißen Strümpfen, überaus anmutig und kokett, dabei war der Sonnenkönig damals bereits 63 Jahre alt.

Bei Frauen hingegen war der Unterkörper lange Zeit mit voluminösen Röcken weitgehend abgeriegelt. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken schreibt in ihrem Buch "Angezogen", dass die heute zur Schau gestellten "neuen Beine der Frauen" im Grunde die "alten Beine der Männer" seien. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert verschwanden Letztere im Anzug, auf Nimmerwiedersehen. Stramme Wadeln waren höchstens noch in der Tracht gefragt. Insbesondere in der Lederhose, wo sie mit dem "Loferl", einer Art verkürztem Stutzen, betont werden.

Die Wade stand geschichtlich gesehen schon mal besser da.

Die offensive Beinmode früherer Epochen hatte ihren Ursprung in der Militärkleidung: Den kurzen Ballonrock, die sogenannte Heerpauke, oder schmale Oberschenkelhosen trugen die Herren aber weniger aus Gründen der Beweglichkeit, sondern um Virilität und Status zu unterstreichen. Solche schönen Beine musste man sich schließlich erst mal leisten können. Da steckte viel Tanz, Reiten und Fechten drin - gefragt waren zu jener Zeit "lean muscles", lange, schlanke Muskeln, wie man sie heute beim Yoga trainiert. Also nicht ganz die Art von Baumstamm-Waden, wie sie in der Antike populär waren, als Männer kniekurze Gewänder trugen. Im Film "Troja" musste Brad Pitt - sonst eher frei von Problemzonen - in einigen Szenen durch ein Beindouble ersetzt werden, weil seine eigenen Schenkel nach dem hellenischen Schönheitsideal zu dünn, also nicht Manns genug waren.

Man kann sagen: Die Wade stand geschichtlich gesehen schon mal besser da. Auf einer amerikanischen Historien-Webseite schrieb ein Autor kürzlich, noch zu Kolonialzeiten seien Männer regelrecht besessen von ihren Unterschenkeln gewesen. Das würde auch erklären, warum etwa George Washington auf seinen berühmten Porträts stets die rechte, gut modellierte Wade nach außen dreht. Manch Zartgliedriger habe sogar Füllmaterial in die Kniestrümpfe gestopft, um attraktiver zu wirken - sozusagen das frühe Pendant zum heutigen Push-up-BH.

Und plötzlich scheint alles klar zu sein: All die Männer, die ständig so albern ein Bein auf irgendetwas stellen, auf das erlegte Nashorn, einen Hydranten, die Stoßstange - sie können gar nicht anders! Das ist die alte optische Überhöhung ihres besten Stücks, also der Wade. Im Übrigen ist die Zurschaustellung eines wohlgeformten Männerbeins auch im Zuge der Gleichberechtigung absolut überfällig.

Bei den Mailänder Männerschauen für diesen Sommer passierte genau das: Miuccia Prada schickte einige Models in ziemlich kurzen Hosen über den Laufsteg, die dazu Hemd oder Sommermantel trugen. Der eigentliche Blickfang waren aber sportliche Kniestrümpfe. Die schmalen Waden der Models steckten in schwarzen, roten oder grauen Modellen mit seitlichem Prada-Logo, der Länge nach mit Schlankmacher-Streifen versehen. Ein denkwürdiger Auftritt.

Denn kurze Hosen, kombiniert mit Socken - dieser Look wird ja meist unter der harmlosen Kategorie "Schuljunge" verbucht. Süß bei Prince George, unvermeidbar als Teil der englischen Schuluniform, untragbar für alle anderen. Dagegen: kurze Hosen zu Socken, die an Sport-Stutzen erinnern? Das wirkte in Mailand gleich viel männlicher und deutlich attraktiver. Wie auch Fußballerwaden in Stutzen genau genommen ziemlich gut aussehen können. Der Strumpf streckt die Wade optisch, kaschiert die Haare und verpackt das Bein elegant.

Kein Wunder, dass Real Madrid Mitte der Fünfzigerjahre "das weiße Ballett" genannt wurde. Die Unterschenkel in den weißen Stutzen tänzelten so leichtfüßig durch die gegnerische Abwehr, dass die Fans geradezu entzückt waren. Wobei, so richtig schwärmen durfte man öffentlich von Männerwaden natürlich nicht. Das englische Duo Alan & Denise besang 1983 zwar die "sexy knees" von Karl-Heinz Rummenigge, aber auch das eher ironisch. Nur Günther Beckstein soll beim Anblick der "Wadeln von den drei jungen Männern" einer Trachtenkapelle angeblich der Satz entfahren sein: "Da kann jedes Mannsbild in Versuchung kommen."

Natürlich ist Wade nicht gleich Wade. Auf der Straße nicht, bei der Wiesn nicht. Und beim Fußball schon gar nicht, wo man selbst von der obersten Tribüne die von Thomas Müller oder Neymar anhand ihrer Form und Geschmeidigkeit erkennen kann. Manche Unterschenkel sind schlank, andere wuchtiger. Gegen Cristiano Ronaldo beispielsweise kann man einiges sagen, aber seine Waden sind state of the art. Zu Anfang seiner Laufbahn hatte er eher schmale Fohlenbeine, die letzten Jahre sind sie kräftiger geworden. Angeblich lässt Ronaldo niemals einen "Leg Day" aus, um die Muskulatur in Form zu halten. Auch in Fitnessstudios sind neuerdings wieder Bein-Work-outs angesagt.

Die Wade wird zum neuen alten Aushängeschild

Womöglich auch, weil Männerbeine wieder auf dem Weg in die Freiheit sind. Der oscarprämierte Film "Call Me By Your Name" bestreitet seine 133 Minuten ohne nennenswerte lange Hose. Die beiden Hauptdarsteller tragen kurze Shorts oder noch kürzere Badehosen (oder nichts davon), trotzdem gilt der Film als ästhetisches Meisterwerk. Der Fotograf Juergen Teller zeigt sich gern in bunten Sporthöschen. Denkwürdiges Zitat: "Warum Shorts tragen, wenn sie nicht 'short' sind?" Pharrell Williams war 2014 der erste Mann, der zur Oscarverleihung Smokingjacke und kurze Hosen trug. Dazu Lederschuhe, keine Kniestrümpfe oder Socken (und erst recht nicht diese Füßlinge). Was erstens eleganter war und zweitens sein neues Accessoire betonte: ein Tattoo am rechten Bein.

Unter Tätowierern gilt die Wade als neuer "Hotspot". Immer mehr Männer lassen sich dort Motive stechen, heißt es aus dem bekannten Vagabond Tattoo Studio in London - wer sich hier beinlich veredeln lässt, will das dann natürlich auch zeigen. Heißt: kurze Hosen. Die Fußballer Lionel Messi, Daniele De Rossi, Neymar sind an der Wade tätowiert. Auch bei Männermodels sieht man häufig verzierte Beine, zuletzt Ende Mai bei Guccis Cruise Show.

Wenn die Wade nun also zum neuen alten Aushängeschild wird, muss sie gepflegt und aufgepäppelt werden. Schönheitschirurgen bieten formendes Aufspritzen mit dem Gel Macrolane an, für eine extrastramme Silhouette. Auch leichte O-Beine können damit behoben werden, versprechen die Experten. Keine Problemzone ohne Lösung. Warum sollte es Männern im Schönheitswahn anders gehen als Frauen?

Bleibt zu klären, ob Männerwaden da noch behaart sein dürfen. Dass Fußballer ihre Beine sehr wohl rasieren, weiß man spätestens seit Marco Asensio. Der Spieler von Real Madrid verpasste vergangenes Jahr kurzfristig das Champions-League-Auftaktspiel wegen einer geheimnisvollen Verletzung. Wie sich später herausstellte, hatte sich beim Rasieren der Unterschenkel eine Pore so entzündet, dass es zu schmerzhaft war, einen Stutzen darüber zu ziehen.

© SZ vom 09.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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