WM-Titelverteidiger Spanien:Weltmeister vom Skalpell bedroht

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Gegen die Niederlande einer der Schwächsten: Iker Casillas. (Foto: Getty Images)

Nach dem 1:5 gegen die Niederlande geht es für Spanien um alles oder nichts. Vor dem Spiel gegen Chile wird im Land des Weltmeisters gerätselt, wie stark Trainer Del Bosque die Aufstellung verändern wird - und wie sehr er sich den alten Loyalitäten verpflichtet fühlt.

Von Javier Cáceres, Belo Horizonte

Bei Real Madrid, wo Spaniens Nationalcoach Vicente Del Bosque eigentlich zu Hause ist, war einmal ein Waliser namens John Toshack Trainer. Ein amüsanter Mann, dieser Toshack, der problemlos eine Enzyklopädie der Fußballaphorismen füllen könnte, mit Sprüchen, auf die er ein Copyright hat.

Eines seiner Bonmots handelt von der Halbwertzeit innerer Überzeugungen im Fußball, insbesondere nach Niederlagen: "Montags denke ich dann immer, dass ich zehn Spieler austauschen muss. Dienstags sieben oder acht, donnerstags noch vier, freitags nurmehr zwei - und samstags denke ich bereits, dass doch die gleichen Arschlöcher wie immer spielen müssen."

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Nicht, dass das die Termini wären, in denen Del Bosque von seinen Spielern denken oder gar sprechen würde; dafür ist er viel zu sehr Vaterfigur. Aber obiger Spruch ist ihm schon deshalb geläufig, weil er bei Real Madrid zum Chef befördert wurde, nachdem Toshack die Medien in der Pressekonferenz genug bespaßt hatte. Und nun fragen sich viele Spanier, wie sehr Del Bosque der Toshack-Doktrin folgen wird.

Kurz vor dem zweiten Gruppenspiel an diesem Mittwoch gegen Chile war zwar sicher, dass Del Bosque einige Justierungen im Gefüge vornehmen wird. Ob er aber auch bereit ist, traumatische Entscheidungen zu treffen nach dem 1:5-Desaster gegen die Niederlande? Riskiert er wirklich die Operation am offenen Herzen, die kurz nach dem Spiel unvermeidbar zu sein schien?

Es geht ja nun schon, nach der höchsten Niederlage, die je ein Champion beim Versuch einer Titelverteidigung erleiden musste, bereits um Alles oder Nichts, "um Leben oder Tod", wie Mittelfeldspieler Cesc Fàbregas es umschrieb, als er die letzte Chance meinte, im Turnier zu bleiben. "Wir sind schon flexibel", sagte Del Bosque vor dem Abflug aus dem Teamquartier in Curitiba nach Rio, ehe er hinzufügte: "Aber einige Dinge werden wir auch beibehalten, da sind wir sehr starrköpfig."

Die Dinge, die Spanien beibehalten will, haben viel mit der Loyalität zu tun, die Del Bosque empfindet: gegenüber dem Stil, der den Spaniern mehr Erfolge beschert hat denn je; gegenüber den Spielern, die diese Erfolge herbeigeführt haben und in Del Bosques Augen sich damit auch das Recht auf Katharsis verdient haben. "Ich weiß, dass ich vielen als ein politischer Trainer gelte", sagte er einmal von sich - genau wegen solcher Anwandlungen. Die unbeantwortete Frage aber, welche Dinge er nun wie flexibel gestalten will, lässt Spaniens Medien die Alarmglocken läuten.

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Sicher ist nur, dass Del Bosque genug Argumente hätte, um alle elf Spieler auszutauschen, die gegen die Niederlande alle Dämme brechen ließen. Del Bosque hat gesagt, dass er seine Startelf fürs Spiel gegen Chile im Kopf hat, und dass es zwei oder drei Wechsel geben "könnte". Welche das sein werden, ließ er offen, es kann sein, dass er nur je einen Wechsel in Abwehr, Mittelfeld und Sturm vornehmen möchte.

Klar stellte er nur eins: "Ein Wechsel bedeutet nicht, dass wir jemanden stigmatisieren wollen. Alle haben unsere Wertschätzung. Aber über dieser Wertschätzung steht die Mannschaft." Ist das schon ein Hinweis darauf, dass Del Bosque doch das Skalpell zückt? Was er gewiss nicht tun wird, ist den desolat auftretenden Kapitän und Torwart Iker Casillas auszutauschen. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird Pedro vom FC Barcelona ins Team rücken, auf dass er - anstelle von David Silva (Manchester City) - als Wirbelwind walte.

Spanien braucht nicht nur einen Sieg, sondern möglichst einen ausufernden Triumph, um das Torverhältnis aufzubessern. Doch abseits aller offensiven Disposition verlangt die Lage eigentlich vor allem einen Einsatz von Javi Martínez vom FC Bayern. Zumal er vielseitig einsetzbar ist. Doch da werden die Fragezeichen schon größer.

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Der Grund: Defensivkraft Martínez müsste ja jemanden ersetzen - und das wäre in jedem Fall ein Spieler aus dem Pantheon. Aber setzt Del Bosque wirklich Xabi Alonso auf die Bank, den defensiven Mittelfeldmann von Real Madrid, auch wenn er erkennbar zu jenen Europa- und Weltmeistern zählt, die in die Jahre gekommen sind? Wird er wirklich Barcelonas Verteidiger Gerard Piqué aus dem Team bugsieren?

Piqué sah man im Auftaktspiel einerseits die mangelnde Physis an, andererseits stand er auch nicht viel schlechter da als Sergio Ramos, der Kollege von Real Madrid. Auch Koke (Atlético Madrid) gilt als einer der Spieler, die auf einen Einsatz spekulieren. Doch seine Planstelle besetzt Xavi Hernández vom FC Barcelona, der wiederum der Spieler ist, der den Stil repräsentiert, auf den Trainer Del Bosque nicht verzichten will.

Auch dieser Xavi hat noch lebhafte Erinnerungen an die Duelle der letzten Jahre gegen Chile. Nicht nur an die drei Freundschaftsspiele, in denen sich Chilenen und Spanier seit 2009 gemessen haben (und von denen eins 2011 in einer Keilerei endete). Sondern vor allem das Gruppenspiel der WM 2010, bei dem Spanien gegen Chile ebenfalls vor dem Aus stand.

"Laufstark, kompliziert, aggressiv", seien die Chilenen schon damals trotz ihrer 1:2-Niederlage gewesen, sagte Xavi. Und als er - "ufff!" - aufseufzte, klang er fast so, als sei er von der Erinnerung an Alonso de Ercilla getragen, dem großen Dichter des Siglo de Oro, des Goldenen Zeitalters Spaniens. Aufsässig, kriegstoll und ungezwungen seien die Bewohner Chiles, und darob auch "nie von einem Fürsten beherrscht noch fremder Herrschaft unterworfen" gewesen, schrieb Ercilla einst in einer Mischung aus Furcht und Bewunderung. Sie hat sich über die Jahrhunderte gehalten, mit mal mehr, mal weniger ausgeprägter Angst.

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Auf dem Weg bei der WM 2010 zum Stadion saß Álvaro Arbeloa im Bus neben Iker Casillas, und er erschrak, als der Torwart zu ihm sprach. "Iker sagte zu mir wörtlich: Ich scheiße mir in die Hosen. Und ich dachte: Aber Iker! Bei all den Spielen, die du schon auf dem Buckel hast!" Wenn eines nicht ausgeschlossen werden kann, dann das: dass Casillas am Mittwoch auf dem Weg ins Maracanã Ähnliches äußert.

© SZ vom 18.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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