WM-Spielort São Paulo:Griechischer Marmor auf Boden aus Lehm

Lesezeit: 4 min

Auch in der Favela Moinho in Sao Paulo wird Fußball gespielt. Vom Prunk des Stadion Itaquerao ist hier aber nichts zu sehen. (Foto: AP)

Das Eröffnungsspiel im Stadion Itaquerão soll die WM-Party in Brasilien einleiten. Doch es ist auch ein Symbol für die Widersprüche dieser WM. Luxus und Armut liegen nirgends dichter beisammen als in São Paulo, der reichsten und größten Stadt Südamerikas.

Von Peter Burghardt, São Paulo

Sehr kurz vor dieser Weltmeisterschaft und sehr nah am Ort ihrer feierlichen Eröffnung sitzen Männer und Frauen und Kinder vor offenen Feuern und wärmen sich im Nieselregen. Vor ihnen spielen ein paar Kids auf lehmigem Boden Fußball, mit Gummistiefeln und Badeschlappen. Das könnte etwas Idyllisches haben, Sonnwende in Brasilien.

Doch zwei Kilometer Luftlinie hinter der Arena Corinthians, auch genannt Itaquerão, wo an diesem Donnerstag die WM angepfiffen wird, wohnen in diesem Zeltlager 4000 oder 5000 Familien unter Plastikplanen neben einem öffentlichen Park. Es sieht aus wie in Haitis Flüchtlingscamps nach dem Erdbeben 2010, als die Häuser eingestürzt waren. Dies allerdings ist São Paulo, die größte und reichste Stadt Südamerikas. Und gegenüber beginnt die bombastische Weltmeisterschaft.

Anfang Mai besetzten Obdachlose dieses brachliegende Grundstück an den Hügeln des Parque do Carmo im Osten der Megalopolis. Angeführt werden sie von der Bewegung landloser Arbeiter, der MTST, deren rote Fahnen über der Siedlung wehen. "Resistência Urbana", steht da, "städtischer Widerstand."

MeinungFifa-Präsidentschaft
:Blatter dreht Kritikern die lange Nase

Die WM ist ein Milliarden-Spiel in den Händen von ein paar alten Männern. Diese Konstellation kann nie und nimmer gutgehen. Die Uefa will Fifa-Chef Sepp Blatter zu Fall bringen - doch solange sich die Verbände selbst kontrollieren, wird sich kaum etwas ändern.

Ein Kommentar von Thomas Hummel, Salvador

Den meisten von ihnen stiegen die Mieten zu schnell, als Politiker und Baufirmen im ärmlichen Viertel Itaquera ein raumschiffartiges Stadion samt Shopping Mall und U-Bahn-Station hochzogen. Allein diese Arena Corinthians für den populären Klub und sechs WM-Spiele hat 1,4 Milliarden Reais gekostet, 460 Millionen Euro.

Mit Böden aus griechischem Marmor und Armaturen aus Japan. "Für uns ist das nicht", sagt die Putzfrau Maria Fátima de Souza, die in guten Monaten den Mindestlohn von 724 Reais (241 Euro) zusammenkehrt. "Wir können uns kaum unsere Beerdigung leisten."

Alles in allem wird das Turnier nach aktuellem Stand knapp 26 Milliarden Reais verschlingen, fast neun Milliarden Euro, mehr als Deutschland 2006 und Südafrika 2010 zusammen. "Kannst du dir das vorstellen?", fragt Otacílio Torres in seinem Kapuzenpulli, ein Wortführer der Aufständischen. Er liebt wie fast alle hier futebol, den Fußball, damit das klar ist. "Wir haben keine Wut auf die WM, sondern auf die exzessiven Ausgaben", sagt der Flamengo-Fan Torres. "Das ist unser Steuergeld, eine Schande."

Sepp Blatter auf dem Fifa-Kongress
:"Meine Mission ist noch nicht zu Ende"

Er will nochmal: Sepp Blatter kandidiert 2015 erneut fürs Fifa-Präsidentenamt. Der Boss des Welt-Fußballverbandes schwenkt noch einmal die Geldgießkanne für Exoten-Verbände kleiner Länder - und überrascht in Sachen Technologie-Einführung auf dem Rasen.

Von Thomas Kistner

So wuchs hier ein Camp, das einen bizarren Kontrast zur ersten Bühne dieser Sportveranstaltung darstellt und entsprechend viele Kameras anzieht. Die Bilder hatten Regierung und Fifa nicht eingeplant. Obendrein wird vor dieser umstrittenen Arena Corinthians alias Itaquerão noch gewerkelt, und der Endspurt hat noch weitere für die Veranstalter unangenehme Momente produziert.

Trotzdem wurde die brasilianische Auswahl am Dienstagabend jubelnd empfangen, ein paar Hundert Fans mit Flaggen begleiteten die Seleção vom Flughafen Congonhas zum Hotel. Einheimische debattieren über Neymar, der sogar den Titel von Vogue schmückt, auch hängen an einigen Kneipen, Behörden, Einkaufszentren oder Taxis grüngelbblaue Banner der Nation. Flachbildschirme sind ohnehin reichlich vertreten, und essen und trinken kann man in dieser Metropole wie in New York.

Die Stimmung indes ist im Umkreis des WM-Anstoßes vermutlich kühler als in Münchner Biergärten oder an Hamburger Elbstränden. Das hat schon damit zu tun, dass im südlichen Brasilien der Winter beginnt. Zum Glück ist für das WM-Debüt schönes Wetter angekündigt - Regen wäre schlecht, die Zusatztribünen im Stadion sind genauso ohne Dächer wie die Camper. Außerdem gibt es Ärger.

Fünf Tage lang streikten die Metro-Mitarbeiter für bessere Gehälter, die U-Bahn stand auf mehreren Strecken still. Das Ergebnis waren sagenhafte Staus, länger als 200 Kilometer, die Blechlawinen auf den Ringautobahnen Marginal Tiête und Marginal Pinheiros näherten sich Rekorden und trieben Passagiere in den Wahnsinn. Vermögende flogen wie üblich im Hubschrauber darüber hinweg, nirgendwo gibt es mehr Helikopter als in São Paulo.

Am Montag lösten Militärpolizisten mit Knüppeln und Tränengas eine Blockade, und der Gouverneur Geraldo Alckmin ließ einerseits mehrere Metro-Angestellte feuern und geht wohl andererseits notgedrungen auf die Forderungen ein. Fürs Erste wurde der Ausstand unterbrochen, am Spieltag könnte es weitergehen, immerhin ist Feiertag. An der großen Avenida Paulista, dieser Fifth Avenue, wiederum wird bereits seit einem Jahr immer wieder demonstriert, derzeit protestieren Justizbeamte.

Da wirken die Fifa-Fähnchen etwas bemüht und auch die Gemälde auf Sozialbauten in Itaquera in den Farben früherer WM-Länder. "Der Fußball kommt nach Hause", verkündet eine Fassade an der Bahnstrecke.

São Paulo ist derzeit eine schwierige Heimat, zumal die konservative Mehrheit der Bewohner die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff und ihrer linken Arbeiterpartei PT nicht ausstehen kann und ihr die Hauptschuld für die teuren und verspäteten Bauwerke in die Schuhe schiebt. "Pessimisten", schimpft Frau Rousseff, die WM werde ein Fest.

Obendrein hält der noch unbeliebtere Fußball-Weltverband Fifa zwischen den Wolkenkratzern seinen streng bewachten Kongress ab. Der Patron Joseph Blatter und seine Funktionärsriege können sich vermutlich kaum vorstellen, wie wenige Freunde sie in Brasilien haben. Der Slogan "Padrão Fifa", Fifa-Standard, wurde zum Schimpfwort.

Standard schaffe die Fifa besonders bei der Korruption, spottet ein Kommentator des Blattes Folha de São Paulo. "Die Fifa-Leute werden ausgepfiffen, hier und überall", prophezeit Otacílio Torres von den Landlosen. Die Fifa ist für ihn noch schlimmer als Brasiliens ebenfalls kleptomanischer Fußball-Verband CBF, und den nennt er "lixo". Müll.

Dennoch wollen die Herausforderer aus dem Schattenreich des Itaquerão auf eine Kundgebung während des Einstandsmatches zwischen Brasilien und Kroatien verzichten. Sie haben in den vergangenen Wochen sechs Demos hingelegt, bis Staatschefin Rousseff Hilfe versprach.

WM-Tagebuch "Blog do Brasil"
:Geplagtes Gürteltier

Bei der Eröffnungsfeier zur Weltmeisterschaft in Brasilien bekommt die Welt auch das offizielle Turnier-Maskottchen zu sehen. Schon vor dem ersten Anpfiff muss "Fuleco" einiges aushalten - höchste Zeit, dem Kuscheltier etwas Mitleid zu spenden.

Von Kathrin Steinbichler

"Für uns ist die WM so gesehen auch gut", das gibt Torres zu. Landesweit sollen 157 000 Soldaten und Polizisten aufpassen, dass niemand zu viel Ärger macht. In São Paulo verbreitete die Zeitung Estado de S. Paulo das Gerücht, dass Hooligans der Black Blocs mit der Drogenmafia PCC Aktionen planen, manche Bewohner sind nervös.

Einige Paulistanos hoffen sogar, dass die Seleção verliert, damit sich der Widerstand nicht am Ende in eine Party verwandelt und Dilma Rousseff und ihre PT im Oktober nicht wieder die Wahl gewinnen.

Otacílio Torres ist trotzdem für Brasiliens Elf, "wegen Felipão", dem Trainer Scolari, "wegen Thiago Silva, Fred und den anderen. Wegen dem CBF müssten sie in der ersten Runde rausfliegen." Eventuell finden die Obdachlosen auf dem Gelände beim Stadion sogar einen Fernseher und schauen sich das Spiel an.

© SZ vom 12.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: