Revierderby:Ein Tag, der Dortmund lange beschäftigen wird

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Wie geprügelte Hunde: Dortmunds Spieler stehen nach dem Spiel vor der Südtribüne. (Foto: REUTERS)
  • In einem denkwürdigen Spiel vergibt der BVB eine 4:0-Führung und spielt gegen Schalke noch 4:4.
  • "Du spürst im Körper nur Enttäuschung", sagt Dortmunds Trainer Peter Bosz.
  • Schalkes Trainer Domenico Tedesco glaubte selbst nicht mehr an einen Punktgewinn.

Von Felix Meininghaus, Dortmund

In Dortmund waren gerade mal 20 Minuten gespielt, da rannte Nuri Sahin wie von Sinnen nach draußen, um allen, die kollektiv von der Reservebank aufgesprungen waren, in die Arme zu hüpfen. Dermaßen entrückt gebärden sich Spieler im Normalfall nur, wenn ihnen Außergewöhnliches gelingt wie ein spätes Siegtor. Doch der Fußballer aus Meinerzhagen hob bereits ab, als die Gala noch gar nicht richtig begonnen hatte.

Doch was war schon normal an diesem Nachmittag, als sich der BVB und der ewige Rivale aus Schalke zu einem völlig durchgedrehten Fußballspiel trafen? Ein Spiel, das niemand vergessen wird, der dabei war oder zugesehen hat. Eine Achterbahnfahrt mutet im Vergleich zu diesem Spektakel wie ein Entspannungsbad an: zwei völlig unterschiedliche Halbzeiten, in der sich erst schwarz-gelb und dann blau-weiß in einen Rausch spielten, acht Tore, Videoschiedsrichter, eine gelb-rote Karte, heftige Rudelbildung nach dem Abpfiff - mehr geht nun wirklich nicht in 90 Minuten. Oder 97 - aber dazu später mehr.

Am Ende gab es nach einem intensiven Revierderby vor 80 179 Besuchern im Dortmunder Stadion ein 4:4 (4:0). Wer gedacht hatte, das legendäre WM-Qualifikationsspiel, als Schweden im Oktober 2012 in Berlin gegen Deutschland einen 0:4-Rückstand noch egalisierte, sei nicht reproduzierbar, wurde eines Besseren belehrt. Schalkes Nationalspieler Leon Goretzka fasste die Gefühle von allen Schalkern in einem verbalen Lapsus zusammen, der angesichts all der Turbulenzen durchaus verzeihbar war: "Wir haben heute gewonnen", sagte der 22-Jährige, um sich dann flugs zu korrigieren: "Äh, unentschieden gespielt."

Schalke wurde zunächst überrannt

Unfreiwillig fand Goretzka exakt die richtigen Worte, denn dieses Remis musste sich für die Schalker tatsächlich wie ein Sieg angefühlt haben. Entsprechend schlichen die Dortmunder wie geprügelte Hunde vom Rasen, sie hatten eine traumatische zweite Halbzeit erlebt, die sie weit über den Tag hinaus beschäftigen wird. Entsprechend angefasst wirkte Trainer Peter Bosz, der zu Protokoll gab, das soeben Erlebte sei "schwer zu analysieren und zu verkraften. Du spürst im Körper nur Enttäuschung, das darf nicht passieren".

Die Eindrücke des Komplettausfalls aller Systeme im zweiten Durchgang überdeckten die mitreißende erste Hälfte, als sich die Borussia nach dem Niedergang der vergangenen Wochen in einen bemerkenswerten Rausch spielte. Vier Tore durch Aubameyang (12.), Götze (20.), Guerreiro (25.) bei einem Eigentor von Stambouli (18.) - die Schalker wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Die oft gelobte Schalker Hintermannschaft kassierte drei Tore innerhalb von nur acht Minuten und damit so viele Gegentreffer wie zuvor in zwei Monaten.

"Jeder Schuss ein Treffer", stöhnte Trainer Domenico Tedesco: "Die Dortmunder haben uns überrannt." Schalke lag 0:4 hinten und hatte darüber hinaus noch Glück, dass der gelbbelastete Thilo Kehrer nach einer ungezügelten Attacke gegen Yarmolenko nicht vom Platz gestellt wurde. Für den gebeutelten Gast ging es eigentlich nur noch darum, sich in die Pause zu retten und das Debakel in Grenzen zu halten. So stellte es Tedesco dar: "Es war enorm, wie wir mit dem Rücken zur Wand standen. Das ist ehrlich gesagt die Hölle."

Was er erlebt hatte, konnten die Dortmunder 45 Minuten später bestens nachvollziehen. Eigentlich war Schalke nur noch zurück auf den Rasen gekehrt, "um die zweite Halbzeit zu gewinnen und Charakter zu zeigen", sagte Tedesco.

Und dann das: Schalke bäumte sich auf und berannte das Dortmunder Tor, der BVB ging komplett unter. Das erste Tor durch Naldo wurde nicht anerkannt, weil der Video-Schiedsrichter eine Abseitsstellung erkannte, doch dann brach es über die Borussia herein: Burgstaller (61.), Harit (65.), Caligiuri (86.) und Naldo in der vierten Minute der Nachspielzeit - es war erstaunlich, wie wenig Mittel der Gastgeber hatte, den Niedergang aufzuhalten. "Wir haben kein Fußball mehr gespielt und waren den Ball viel zu schnell los", analysierte Bosz, dem die Ratlosigkeit im Gesicht stand. Aubameyang erlebte das nicht mehr auf dem Platz mit - er wurde wegen zweier dummer Fouls des Feldes verwiesen. Auch Castro hätte es nach einem miesen Tritt in die Wade von Harit treffen dürfen (78.). Aber der Dortmunder wurde anders bestraft: Weil der merklich angeschlagenen Harit lange behandelt werden musste, gab es die exorbitante Nachspielzeit von sieben Minuten, in denen der Ausgleich für die Gäste fiel.

Es war für alle Beteiligten ein Chaos der Gefühle: Schalker Verzweiflung in Hälfte eins und Glückseligkeit nach dem Schlusspfiff, Dortmunder Rausch mit einem Kater, der heftiger kaum ausfallen könnte. Ein irres Spektakel, das vor allem aus Dortmunder Sicht mehr Fragen aufwirft, als an diesem besonderen Nachmittag beantwortet werden konnten.

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