Olympische Spiele 2012 in Großbritannien:London hat geleuchtet

Lesezeit: 3 min

Straßenschlachten, randalierende Jugendliche und rauchende Trümmer zeigten die Bilder aus London noch vor einem Jahr. Die vergangenen 17 Tage haben nun neue Motive voller Symbolik geliefert. Das Vermächtnis dieser Spiele weist weit über die Tagespolitik hinaus. Großbritannien hat sich neu kennengelernt: leistungsfähig, stolz, fröhlich - und ein bisschen irre.

Christian Zaschke

Vor genau einem Jahr hat London gebrannt. Jugendliche lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei, plünderten Geschäfte und trugen vor den Augen der Überwachungskameras Flachbildschirme und Turnschuhe nach Hause. Sie legten Feuer, schlugen Scheiben ein und zogen eine Spur der Verwüstung besonders durch die ärmeren Viertel.

Noch brennt die olympische Flamme: das Olympiastadion kurz vor Beginn der Abschlusszeremonie. (Foto: AFP)

In den vergangenen 17 Tagen hat London geleuchtet. Die Jugend der Welt lieferte sich heitere Wettkämpfe und trug vor den Augen der Fernsehkameras allerlei Medaillen nach Hause. Dennoch sind die Unruhen des vergangenen Jahres nicht vergessen. Sie sind Teil des öffentlichen Diskurses. Noch immer sind Gerichtsverfahren gegen Randalierer anhängig, und Vizepremierminister Nick Clegg hat den 81 Jahre alten Maurice Reeves zur olympischen Abschlussfeier eingeladen, dessen Möbelgeschäft damals vollkommen ausbrannte.

Die rauchenden Trümmer seines Ladens standen als Symbol für den Zustand der britischen Gesellschaft, in der die Jugendarbeitslosigkeit beständig steigt, in der die Idee des Multikulturalismus zu scheitern droht, weil besonders farbige Jugendliche keine Perspektive haben, und in der zugleich die Banker der Londoner City mitten in der Rezession fette Boni einstreichen.

Daran hat sich wenig geändert, aber es gibt nun, nach 17 olympischen Tagen, neue Bilder, die ebenfalls voller Symbolik stecken. Die Eröffnungsfeier setzte den Ton. Sie erzählte die Geschichte eines Landes, das sich in stetem Wandel befindet. Sie pries den National Health Service, der die medizinische Grundversorgung aller Einwohner des Königreichs sichert und wie keine zweite staatliche Institution für die Idee eines fürsorglichen Miteinanders steht. Sie bot die Bühne für Tim Berners-Lee, den britischen Erfinder des Internets, der inmitten des riesigen Stadions an einem Schreibtisch saß und vier Wörter in einen Computer tippte, die auf die Zuschauerränge projiziert wurden: This is for everyone. Das ist für alle.

Diese Botschaft richtete sich nach innen und nach außen. Sie war eine Einladung an die vielschichtige, in Teilen zerrissene britische Gesellschaft, an den Spielen teilzuhaben. Und sie war ein Signal an die Länder, in denen, wie Sportfunktionäre gern sagen, die "Menschenrechte noch nicht voll verwirklicht" sind - zum Beispiel an China, das die Bombast-Spiele von 2008 ausgerichtet hat.

Als nach den ersten Tagen noch kein Brite eine Goldmedaille gewonnen hatte, machte sich Sarkasmus breit. Wir sind eben Briten, hieß es: zu höflich, um uns auf der eigenen Party in den Vordergrund zu drängen. Doch dann kamen die Medaillen wie ein warmer Regen über das Land. Wenn die Briten dereinst zurückschauen, wird ihnen wohl zuerst der 4. August einfallen, der Super Saturday, an dem binnen knapp einer Stunde drei britische Athleten Gold in der Leichtathletik gewannen. Der rothaarige Greg Rutherford im Weitsprung.

Jessica Ennis, Tochter eines gebürtigen Jamaikaners und einer Engländerin, im Siebenkampf. Mo Farah, der im Alter von acht Jahren aus Somalia ins Land kam, im 10.000-Meter-Lauf. Bald war dieser Witz in der Welt: "Ein Rothaariger, eine farbige Frau und ein ehemaliger Flüchtling aus Somalia kommen in einen Pub - und jeder kauft ihnen einen Drink." In diesem netten Witz steckt etwas Großes, denn er greift Boyles Thema vom fürsorglichen, vom klassenlosen Miteinander wieder auf.

Was wird bleiben von einem Sportfest, das Großsponsoren als Bühne dient, das den Steuerzahler mehr als neun Milliarden Pfund kostet und in dessen Schatten sich die britische Regierungskoalition gerade heillos zerstritten hat?

Kein britischer Politiker hat sich die Spiele zunutze machen können. Nicht Premierminister David Cameron, der als der Unglücksbringer galt, weil britische Athleten selten gewannen, wenn er auf der Tribüne saß. Nicht Londons Bürgermeister Boris Johnson, der zwar als Clown bella figura machte, aber inhaltlich nichts zu sagen hatte. Nicht Oppositionsführer Ed Miliband, der gar nicht zu sehen war. Das Vermächtnis der Spiele weist weit über die Tagespolitik hinaus. Es ist dennoch eminent politisch, denn im Land gibt es nun eine leise Hoffnung: die auf ein grundlegend verändertes, modernes, offenes Großbritannien.

Für die Briten waren die dritten Londoner Spiele nach 1908 und 1948 Tage des Glücks. Zwei Wochen lang hat eine zuvor verunsicherte Nation sich selbst gefeiert. Team GB gelang es, einen Patriotismus zu wecken, der alle Regionen und alle sozialen Schichten des Königreichs umfasste. Großbritannien hat sich neu kennengelernt, leistungsfähig, stolz, fröhlich und ein bisschen irre. Das ist mehr, als die kühnsten Optimisten zu hoffen wagten.

© SZ vom 13.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Olympia-Abschlussfeier
:Das Feuer erlischt, London wirkt nach

Eine unbeschwerte Party zum Schluss: Die Spiele in London enden mit zahlreichen Showgrößen auf der Bühne. Die "Spice Girls" feiern ein kurzes Comeback, "Take That" und hübsche Models haben ihren Auftritt - dann lobt IOC-Präsident Rogge die Organisatoren. Als die Lichter ausgehen, bleibt der Eindruck fröhlicher, positiver und hoffnungsvoller Spiele.

Abschlussfeier in London

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: