Nationalmannschaft:Das Problem der Deutschen mit Özil

Mesut Özil beim WM-Spiel 2018 gegen Mexiko

Härter kritisiert als andere: Mesut Özil beim Spiel gegen Mexiko

(Foto: REUTERS)
  • Durch Fotos mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan ist Mesut Özil für viele endgültig zur Reizfigur geworden.
  • Auch sportlich ist er der am häufigsten kritisierte deutsche Nationalspieler - doch das meist zu Unrecht.
  • Viele seiner Kritiker verstehen Özils Fußballspiel nicht.

Von Martin Schneider, Moskau

Mesut Özil wird oft besungen. Nicht in diesen Tagen. Aber in London, wo er beim FC Arsenal Fußball spielt, haben ihm Fans ein Lied gedichtet, das gerne angestimmt wird: "We've got Ozil - Meeeeeesut Ozil / I just don't think you understand / He's Arsène Wenger's man / He's better than Zidane - We've got Mesut Ozil." Es enthält einen Satz, der auf Mesut Özil auf mehreren Ebenen zutrifft. Nicht dass er Wengers Mann ist oder besser als Zidane. Sondern: "Ich glaube nicht, dass ihr versteht".

Viele Menschen verstehen Özil nicht. Seit er sich kurz vor der WM gemeinsam mit dem umstrittenen türkischen Staatspräsidenten Erdoğan fotografieren ließ, sind es noch mehr. Doch Özil wird schon seit längerem härter angefasst als seine Kollegen. Das war bei der WM 2014 so, das ist jetzt nach dem 0:1 gegen Mexiko der Fall, nachdem er aus einer insgesamt schwachen deutschen Mannschaft vor allem in den Kritiken der Boulevard-Medien herausgehoben wird.

Die vermeintlich sportlichen Argumente gegen ihn waren schon vor den Erdoğan-Fotos die gleichen. "Diese Körpersprache", heißt es, oder "die hängenden Schultern". Oder: "Das Spiel geht an ihm vorbei." Und tatsächlich immer noch: "Er ist nicht bei der Sache, weil er die deutsche Hymne nicht mitsingt."

Thomas Müller ist ihm ähnlich - aber viel beliebter

Das Phänomen hat mehrere Ebenen. Angefangen damit, dass Mesut Özil ein Fußballer für den zweiten Blick ist, ein Spieler, der im Sekundenbruchteil brilliert. Ob die Schultern hängen, ist völlig egal, wichtig ist sein Fußgelenk. Er kann an guten Tagen mit einer Bewegung seines Knöchels Abwehrreihen zerschneiden. Alles, was er dafür braucht, ist sein Gefühl für Ball, Raum und Moment. Er erfasst Situationen um sich herum schneller als andere Fußballer, er findet einfache Lösungen für komplizierte Probleme - manchmal durch einen Schritt, manchmal durch eine Drehung. Im modernen Fußball ist das System der Gegner und Özil sieht das System und erkennt seine Schwächen. Oft ist gar nicht entscheidend, was er tut, sondern nur wann er es tut. Er ist der Meister des Timings und Meister des Details. Aber Details sind eben nicht so leicht zu sehen.

Der Spieler, der ihm in der Nationalmannschaft am ähnlichsten ist, ist Thomas Müller. Müller hat seine Stärke auch nicht in einer fußballerischen Primärtugend, er glänzt nicht durch knallharte Fernschüsse, nicht durch wuchtige Kopfbälle, er ist kein Dribbler oder Sprinter, Muskeln hat er sogar nach eigener Aussage keine und der technisch beste Spieler der Welt wird er in diesem Leben auch nicht mehr. Nein, Müller hat ein ähnliches Gefühl für den Moment wie Özil, nur mit dem Unterschied, dass Özil in die Räume passt und Müller in die Räume läuft.

Aber stürzt sich die Nation auf Thomas Müller? Warum provoziert der eine (Özil) Fußball-Altstars in Talkshows zu unsachlichen Vorwürfen und der andere (Müller) nicht? Ob das etwas mit Rassismus gegen den in Gelsenkirchen geborenen Deutsch-Türken zu tun hat, ist kaum zu beantworten, da muss jeder Kritiker selbst in sich hineinhören. Es fällt aber auf, dass die gleiche Reaktion - überharte Kritik bei schwächerer Leistung - auch den nicht-türkischstämmigen Mario Götze trifft.

Der große Unterschied zwischen Özil und Müller ist noch ein anderer: Müller ist ein Charismatiker. Er ist oft lustig, schlagfertig - auch nach Niederlagen, wie nach dem 0:1 gegen Mexiko stellt er sich vor die Mikrofone und findet passende Worte, meist sogar ohne abgedroschene Fußball-Floskeln zu benutzen. Er spielt beim FC Bayern, man sieht ihn jeden Samstag in der Sportschau, nach Champions-League-Spielen spricht er im ZDF-Studio mit Oliver Welke und Oliver Kahn vor Millionen von Zuschauern und weil die Bayern meistens gewinnen, ist ein gut gelaunter Thomas Müller regelmäßig zu Gast in deutschen Wohnzimmern. Das verbindet.

Geht es nur um Özils Zweikampf vor dem 0:1? Wohl kaum

Mesut Özil dagegen mag keine Interviews. Er spielt in England unterhalb des Radars von Millionen deutscher Fußball-Fans. Dort, in der übrigens als zweikampfharten bekannten Premier League, zeigt er brillante Spiele und bricht Rekorde. Kein Spieler in der Geschichte dieser mit Stars besetzten Liga erreichte die Zahl von 50 Torvorlagen so schnell wie er. Aber selbst nach einem Sieg oder einer guten Leistung sagt er selten etwas. Man sieht ihm an, dass es für ihn eine unangenehme Situation ist, in Mikrofone zu sprechen. Dass er nach den Erdoğan-Fotos im Gegensatz zu İlkay Gündoğan schwieg, mag mit diesem Charakterzug zu tun haben. Er bekam dafür jedenfalls die volle Ladung Kritik ab, auch Widerspruch aus den eigenen Reihen. Oliver Bierhoff sagte etwa der Bild-Zeitung: "Ob es [das Schweigen, Anm.] in diesem Fall richtig und gut für ihn ist, steht auf einem anderen Blatt."

Natürlich ist die Schlussfolgerung nicht so abwegig, dass ihn die Fotos und der Umgang damit in seiner Leistung hemmen könnte. Aber im Spiel gegen Mexiko, um das es in dieser Woche ja ging, findet man keine Anzeichen dafür, dass er signifikant schlechter war oder mehr Schuld an der Niederlage trug, als andere deutsche Spieler.

Özil hat Schwächen, wie sie jeder Fußballer hat

Auch hier bietet sich ein Vergleich mit Thomas Müller an, weil beide gegen Mexiko über die vollen 90 Minuten auf dem Platz waren und eine ähnliche Position spielen. Müller lief mehr als Özil (10,7 zu 10,0 Kilometer) und hatte die klar bessere Zweikampf-Bilanz (28 Prozent gewonnene Duelle zu 14 Prozent). Aber Özil hatte deutlich mehr Ballkontakte (89 zu 69), spielte deutlich mehr Pässe (74 zu 45) und brachte 92 Prozent seiner Pässe erfolgreich zum Mitspieler - Müller 71 Prozent.

Zugegeben: Solche Statistiken sind nur bedingt zu gebrauchen. Sie nützen nur, wenn man ein Spiel in seiner Gesamtheit betrachtet. Özil spielte nach der Auswechslung von Khedira ab der 60. Minute zum Beispiel auf der für ihn ungewohnten Sechser-Position. Aber der Grund dafür, dass etwa Lothar Matthäus sich in der Bild-Zeitung ausgerechnet ihn in seiner Einzelkritik herauspickte, ist weder in den Zahlen noch in einem anderen Aspekt dieses Spiels zu finden. Wenn Matthäus schreibt "Ich habe oft das Gefühl, dass Özil nicht mitspielen möchte", fragt man sich schon, wie er darauf kommt, dass jemand mit 89 Ballkontakten nicht mitspielen will. Vielleicht weil Özil den letzten Zweikampf vor dem 0:1 der Mexikaner verloren hat? Auch da ist der Gedanke, dass möglicherweise die Taktik versagt, wenn Özil die letzte Absicherung einer Mannschaft ist, sehr viel naheliegender, als zu verlangen, dass aus ihm plötzlich ein Zweikampfmonster wird.

Mesut Özil hat Schwächen, wie sie jeder Fußballer hat. Er ist kein Leader, er wird seine Mannschaft auch in Zukunft nicht bei einem Rückstand mitreißen. Er ist der Einzige aus der 2010er-Generation um Neuer, Boateng, Khedira und Müller, der nicht Chef sein will. Möglicherweise erzeugt auch das Misstrauen im Führungsspieler-Land Deutschland, wenn jemand sich der Karriereleiter verweigert. Das sind Dinge, die er nicht kann, aber das, was er kann, hat dazu geführt, dass ein gewisser Cristiano Ronaldo 2013 nach Özils Transfer von Real Madrid zum FC Arsenal öffentlich mit den Worten "Ich bin wütend über seinen Wechsel" tobte und dass Özil als einziger deutscher Spieler 26 EM- und WM-Spiele nacheinander von Beginn an absolviert hat - und seine Mannschaft ohne ihn vermutlich auch nicht Fußball-Weltmeister geworden wäre.

Doch im Gegensatz zu den Fans beim FC Arsenal dichtet kein deutscher Anhänger ihm ein Lied. Aber weil die deutschen Fans keine großen Poeten sind, hat auch kein anderer deutscher Spieler einen eigenen Fangesang. Immerhin auf der Ebene wird er behandelt wie jeder andere auch.

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