Nach dem IOC-Entscheid:"Da herrscht absolutes Entsetzen"

Nach dem IOC-Entscheid: Die Whistleblowerin Julia Stepanowa darf nicht zu Olympia.

Die Whistleblowerin Julia Stepanowa darf nicht zu Olympia.

(Foto: AP)

Ein Rückschlag für saubere Athleten, ein Affront gegen die Anti-Doping-Kämpfer: Die Nada-Vorsitzende Andrea Gotzmann spricht über die Wirkung des IOC-Entscheids.

Interview von Johannes Knuth

SZ: Frau Gotzmann, das Internationale Olympische Komitee hat entschieden, Russlands Olympiamannschaft trotz erdrückender Beweise nicht kollektiv aus Rio zu verbannen. Ist der Anti-Doping-Kampf ein Stück weit kollabiert?

Andrea Gotzmann: Das war schon ein herber Rückschlag. Auch nachdem ich zweimal drüber geschlafen habe. Die Kollegen von den anderen Nationalen Anti-Doping-Organisationen sehen das genauso, da herrscht absolutes Entsetzen. Welches Signal hätten Sie sich gewünscht? Ich hätte schon gedacht, dass man hier einen Komplettausschluss befürwortet. So hat es uns in unserer Arbeit und in unserer Glaubwürdigkeit enorm nach hinten geworfen. Vor allem ist es ein Rückschlag für alle sauberen Athletinnen und Athleten, die sich fragen: Was muss passieren, bevor harte Konsequenzen gezogen werden? Russland ist ja nicht das einzige Land, in dem es nicht so läuft, wie wir uns das wünschen. Da hätte ich mir auch ein Signal gewünscht nach dem Motto: So geht es nicht. So wie jetzt entschieden wurde, passt das nicht zur Null-Toleranz-Politik des IOC. Da ist eine große Chance verpasst worden.

Das IOC, das selbst mehr Unabhängigkeit in der Anti-Doping-Bekämpfung vom Sport gefordert hat, lässt nun plötzlich die Sportverbände darüber richten, welche russische Athleten nach Rio fahren dürfen. Dort sitzen nachweislich manche Vertreter, die eng mit Russland vernetzt sind.

Das kann ein Problem in den großen Verbänden sein. Aber es gibt ja auch viele kleine Fachverbände, die gar nicht das Personal haben und nicht das professionelle Know-how dafür mitbringen. Und die werden jetzt mit einer Aufgabe betraut, die sie, wie ich glaube, nicht so ohne Weiteres umsetzen können.

Das finde ich schade, dass man die Fachkompetenz der Welt-Anti-Doping-Agentur vollkommen außen vor lässt. Ich wundere mich schon sehr, dass ich bereits am Sonntagabend lese, dass der internationale Tennisverband innerhalb kürzester Zeit sieben russischen Athleten die Starterlaubnis für Rio erteilt. Was haben die geprüft, wie wurde geprüft, wie ist das alles zu verstehen, wenn von einem international anerkannten Testsystem die Rede ist? Da bleiben viele Fragen offen.

Andrea Gotzmann

"Das ist sehr intransparent, wie das jetzt alles abläuft." - Andrea Gotzmann, Vorstandsvorsitzende der Nationalen Anti-Doping-Agentur für Deutschland.

(Foto: dpa)

Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, findet diesen Kurs von IOC-Präsident Thomas Bach "professionell und umsichtig".

Das mag ich gar nicht direkt kommentieren. Ich sehe das aus der Sicht der Nationalen Anti-Doping-Organisationen. Die Richtung, in die wir gehen wollten, war ja eine ganz andere: Hin zu einer unabhängigen Welt-Anti-Doping-Agentur, die frei ist von Interessenskonflikten und genau diese Prozesse überwacht. Das ist plötzlich alles nicht mehr relevant und wird völlig ausgeblendet. Das finde ich fatal.

Wie groß wird Russlands Mannschaft in Rio nach diesem Auswahlprozess der Sportverbände sein?

Das kann ich überhaupt nicht sagen. Ich kenne die Kriterien ja nicht, die für die Sportler jetzt von jedem einzelnen internationalen Verband aufgestellt wurden. Wir wissen, dass das Meldesystem in Russland absolut im Argen lag, dass dort keine Kontrolleure reingekommen sind, dass Proben nicht außer Landes gebracht werden durften. Diese Proben fallen für eine Beurteilung weg. Und wo sind diese Athleten dann in einem Trainingskontrollsystem außerhalb Russlands gewesen? Man will diese Athleten ab sofort einem scharfen Trainingskontrollsystem unterziehen. Damit hätte man ein Dreivierteljahr früher anfangen müssen. Der Nutzen, den man von einem möglichen Betrug in dieser Zeit hatte, der hält lange an. Das kann man durch Tests jetzt gar nicht mehr aufholen.

Das heißt, dass die nachweislich sauberen Athleten, die die Fachverbände finden sollen, unmöglich auffindbar sind?

Wir müssen einfach die Kriterien kennen, die jetzt angelegt werden. Das ist sehr intransparent, wie das jetzt alles abläuft. Der Zeitdruck ist da, das muss man auch sehen. Aber wenn die Listen der russischen Athleten für Rio feststehen, halte ich es für selbstverständlich, dass die Kriterien für die Entscheidungen zur Verfügung gestellt werden.

Das IOC hat auch entschieden, dass die Whistleblowerin Julia Stepanowa, die das System freilegte, in Rio nicht starten darf. Die Botschaft dahinter lautet offenbar: Liebe Kronzeugen, wir wollen eure Informationen nicht.

Diese Entscheidung ist sehr, sehr schade. Dank Julia Stepanowa, ihrem Mann und auch Grigori Rodtschenkow ist es überhaupt erst möglich gewesen, diese Systeme aufzudecken. Und wir sind überhaupt noch nicht fertig, das hat Richard McLaren in seinem Untersuchungsbericht zu Russland ja auch gesagt: Da ist noch so viel mehr, das erst noch ausgewertet werden muss. Was passiert, wenn sich drei Wochen nach den Spielen ein Datenträger findet mit Namen von Athleten, die jetzt noch sauber erscheinen? Das Ganze ist so systematisch in Russland gesteuert worden, da finde ich es sehr problematisch, einzelne Athleten herauszufischen und zu sagen: Die können in Rio starten. Und die Whistleblower brauchen wir, die muss man ermuntern, ihr Wissen preiszugeben. Dass hier zweierlei ethisch-moralische Maßstäbe angelegt werden, finde ich bedenklich.

Wobei die Rolle von Wada-Präsident Craig Reedie hier auch sehr kritisch zu sehen ist. Die Whistleblower waren zuerst bei der Wada vorstellig geworden, und während der Untersuchungen schrieb Reedie beschwichtigende E-Mails an Russlands Sportminister Witalij Mutko, der in den Berichten massiv beschuldigt wird.

Vielleicht hat man das Problem nicht richtig erkannt. Die Wada hat vielleicht nicht immer die Möglichkeiten, so in die Details zu gehen, aber wenn man dann mal einen deutlichen Hinweis hat, auch was Missstände in den Labors betrifft, die von der Wada akkreditiert sind - dann muss man dem doch systematisch und mit aller Zielstrebigkeit nachgehen, wie die Wada dies mit der unabhängigen Kommission getan hat. Und dann darf man die Personen, die einen direkt auf Missstände hinweisen, nicht so vor den Kopf stoßen, wie dies nun durch das IOC geschehen ist.

Von der Unabhängigkeit, von der Sie vorhin sprachen, kann auch noch keine Rede sein. Craig Reedie ist IOC-Vizepräsident.

Natürlich. Fünfzig Prozent der Mitglieder des Foundation Boards der Wada stammt aus dem Sport. Das sind so die Dinge, die man vielleicht hinterfragen sollte. Die Welt-Anti-Doping-Agentur ist mit den Aufgaben, die sie hat, und mit den Aufgaben, die sie noch übernehmen soll, auch heillos unterfinanziert. Da besteht enormer Bedarf, auch vonseiten des Sports. Die größte Einflussnahme ist es, kein Geld zu geben. Dann kann niemand richtig arbeiten.

Das betrifft aber nicht nur Russland, sondern den Weltsport. Studien legen nahe, dass bei Leichtathletik-Weltmeisterschaften rund ein Drittel der Athleten gedopt war, in Deutschland zogen es bei einer Umfrage der Sporthilfe 40 Prozent der Athleten vor, auf die Dopingfrage gar nicht zu antworten. Die Trefferquote der Nada betrug im letzten Jahr 0,2 Prozent.

Da möchte ich schon differenzieren. Ich denke, wir müssen die Fortentwicklung sehen. Das Bundesparlament hat die Nada-Finanzierung stabilisiert, wir müssen am Ende eines Jahres nicht mehr aufschreien, dass wir die Kontrollen nicht mehr bezahlen können. Wir haben es geschafft, die Tests von den nationalen Verbänden loszulösen, wenn auch das Ergebnismanagement noch nicht umfänglich ist. Wir haben ein Anti-Doping-Gesetz mit Modellcharakter. Wir haben die Prävention gestärkt, damit Athleten gar nicht erst zu Dopingsubstanzen greifen. Diesen Aspekt haben wir bisher kaum berücksichtigt: Was ist mit den gesundheitlichen Schäden von Athleten, die wie in Russland systematisch gedopt werden? Ich glaube, dass viele gar nicht wissen, was mit ihnen passiert. Ich sage auch nicht, dass wir mit unserer Quote von einem Prozent alle Betrüger bekommen. Aber ich wehre mich dagegen, spekulativ in den zweistelligen Prozentbereich zu gehen.

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