Liverpool vor dem Meistertitel:Schmerz am Rande eines Nervenzusammenbruchs

Lesezeit: 4 min

Liverpool steht vor dem ersten Meistertitel seit 24 Jahren. (Foto: dpa)

Bei keinem Verein sind Trauer und Jubel so eng verbunden wie beim FC Liverpool. Während vor Gericht die Stadion-Katastrophe von 1989 aufgerollt wird, steht der Klub vor der ersten Meisterschaft seit 24 Jahren. Darauf ist er selbst gar nicht vorbereitet.

Von Raphael Honigstein, London

"Peter war das längste Baby, das ich je gesehen habe", erinnert sich Patricia Harrison, "und ich frage mich oft, wie groß er letztlich geworden wäre." Peter, ihr Sohn, war 1,93 Meter groß und 16 Jahre alt, als er am 15. April 1989 das Pokal-Halbfinale zwischen Liverpool und Nottingham Forest im Hillsborough-Stadion in Sheffield besuchte. Er kam nicht mehr zurück.

Peter Harrisons Geschichte wurde an diesem Freitag in der gerichtlichen Untersuchung der größten britischen Fußball-Katastrophe vorgelesen. Das Verfahren soll die Schuldfrage klären, nachdem das ursprüngliche Urteil des damaligen Untersuchungsrichters ("Unfall") vor 25 Jahren von der Staatsanwaltschaft Ende 2012 aufgehoben worden war. Wie sich herausstellte, hatte die Sheffielder Polizei mit Hilfe der Zeitung Sun gezielt Lügen verbreitet und für das Unglück fälschlicherweise vermeintlich betrunkene Liverpool-Anhänger verantwortlich gemacht.

Richter Lord Justice Goldring nahm die Beweisaufnahme in einem verspiegelten Bürogebäude in Warrington am 31. März neu auf, doch bisher hat der 69-Jährige nur die herzzerreißenden Stellungnahmen von Familienangehörigen der 96 Todesopfer gehört. Von Schwestern, die noch Jahre später nach ihren Brüdern Ausschau hielten, in der irrationalen Hoffnung, sie könnten doch noch heimkehren. Von Vätern, die hilflos zusehen mussten, wie ihre Söhne in den eingezäunten Blöcken erdrückt oder zertrampelt wurden.

Fußball in England
:Manchester United trennt sich von Trainer Moyes

In der Liga abgeschlagen, die Qualifikation für die Champions League verpasst: Nach einer enttäuschenden Saison stellt Manchester United Trainer David Moyes frei. Routinier Ryan Giggs hilft zunächst als Spielertrainer aus, BVB-Trainer Jürgen Klopp sagt ab.

Zwei Angreifer, 50 Saisontore

Es scheint nur ein Zufall zu sein, dass die für die Stadt so unheimlich schmerzvolle Beschäftigung mit der Vergangenheit mit einer sportlichen Gegenwart zusammenfällt, die ganz Liverpool an den Rande eines Nervenzusammenbruchs rückt. Elf Spiele in Serie hat die Mannschaft des jungen Trainers Brendan Rodgers, 41, gewonnen, sie ist mit begeisterndem Tempofußball aus der Tiefe des tabellarischen badlands (Platz sieben im Vorjahr) überraschend ganz nach oben gestürmt und steht nun, drei Spieltage vor Saisonende, so nah wie nie seit 1990 an der Schwelle zum gelobten Land, der Meisterschaft.

Ein Sieg gegen den FC Chelsea, den Tabellenzweiten (fünf Punkte Rückstand), am Sonntagnachmittag an der Anfield Road käme wohl einer Entscheidung gleich, obwohl Manchester City (Platz drei, sechs Punkte Rückstand, ein Spiel weniger) auch noch eine theoretische Möglichkeit hat. "Wer hätte gedacht, dass wir den Titel holen können?", fragt Stürmer Luis Suárez, "wir waren selber nicht darauf vorbereitet."

Das war niemand auf der Insel. Und dass die Chance auf ein Ende der 24-jährigen Titel-Durststrecke mit der Aussicht auf "Gerechtigkeit für die 96" - wie es ein Schlachtruf an der Anfield Road verlangt - einhergeht, war erst recht nicht zu erwarten. Ganz so zufällig aber, wie es erscheint, prallen Hillsborough und Liverpools Sehnsucht nach dem 19. Titel nicht aufeinander. Das eine bedingt das andere. Denn die Katastrophe von Hillsborough war der Ausgangspunkt für den sportlichen Niedergang der Reds, der Roten aus Liverpool.

Fußball international
:Liverpool ringt Abstiegskandidaten nieder

Der FC Liverpool gewinnt auswärts knapp und baut seine Tabellenführung in der Premier League aus, weil der FC Chelsea überraschend gegen den Letzten verliert. In Italien kommt Lazio Rom ohne Klose nicht voran.

Es gab bekanntlich zwei Stadion-Katastrophen, die den FC Liverpool betrafen, und die in einen Zusammenhang gesetzt gehören: Jene von 1985 im Heysel-Stadion von Brüssel (bei der beim Europacup-Finale der Landesmeister gegen Juventus Turin 39 Fans starben), und jene von 1989 in Hillsborough.

Nach Heysel wurden die englischen Vereine aus allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, doch Klub-Ikone Kenny Dalglish gelang es, den Status des FC Liverpool als Ausnahmeteam jener Zeit zumindest in der heimischen Liga zu festigen. In der Spielzeit nach Hillsborough raffte sich der Verein noch einmal zum Gewinn der 18. Meisterschaft auf, doch Dalglish, der sich persönlich um die Hinterbliebenen der Opfer gekümmert hatte, trat erschöpft ab.

Die Reds verpflichteten in der Folge viele falsche Trainer und noch mehr falsche Spieler und mussten zusehen, wie sich die Rivalen von Manchester United zum reichsten und erfolgreichsten Team auf der Insel entwickelten. Das Old Trafford wurde immer größer und moderner, der Boom der neuformierten Premier League ging an Liverpool und seinem alten, baufälligen Stadion an der Anfield Road vorbei.

Der Gewinn der Champions League brachte zwar 2005 Glanz zurück an die Mersey, doch auf nationaler Ebene fiel man immer mehr zurück hinter den Oligarchen-Klub FC Chelsea und hinter Manchester City, das Spielzeug von Scheich Mansour aus Abu Dhabi. Die amerikanischen Eigentümer (Fenway Sports Group), denen auch das Baseball-Team der Boston Red Sox gehört, investierten vergleichsweise vorsichtig in den Kader. Sie wollen, dass sich der Klub finanziell selbst trägt.

Anfield wird demnächst endlich modernisiert. Bis 2016/17 soll die Stadionkapazität auf 54 000 erhöht werden, zunächst wurden unter Trainer Brendan Rodgers' smarter Führung die Uhren aber mit kleinen, symbolischen Maßnahmen zurückgedreht. Der Nordire ließ die alten, von den Fans geliebten roten Tornetze wieder aufziehen und das originale "This-is-Anfield"-Schild aus den Siebzigerjahren über dem Spielertunnel anbringen. Rodgers hat "ein Gefühl der Nostalgie" rund um den Verein ausgemacht.

Moyes-Aus bei Manchester United
:Der große Irrtum von Sir Alex

Alex Ferguson bestimmte David Moyes einst zu seinem Nachfolger. Nun hat Manchester United das zehnmonatige Missverständnis beendet. Der Rauswurf wirft kein gutes Licht auf den Verein - Favorit auf die Nachfolge ist ein alter Bekannter vom FC Bayern.

Von Raphael Honigstein

Tatsächlich verzückt sein Team die Massen mit einer enthusiastischen Spielweise, die an längst vergangene, glorreiche Tage erinnert. Das Angreifer-Duo mit dem Uruguayer Luis Suárez (30 Saisontore) und dem Engländer Daniel Sturridge (20) ist - unterstützt vom 19 Jahre alten Raheem Sterling - vorne damit beschäftigt, mehr Treffer zu erzielen, als die notorisch wackelige Defensive (44 Gegentreffer) hinten zulässt. Dass sich mit so viel Aufwand die Premier League gewinnen lässt, grenzt an ein Wunder, hat aber vielleicht auch mit der größeren Frische zu tun. Liverpool war im Gegensatz zur Konkurrenz aus London und Manchester nicht in einem internationalen Wettbewerb vertreten.

"Ich weiß, dass es im Himmel 96 Menschen gibt, die diesen Verein für immer unterstützen werden", sagte Rodgers. Er hat gar nicht versucht, die Jagd auf den Titel, die Trauer und die Hoffnung auf eine Rehabilitierung der Toten voneinander zu trennen. An der Mersey wäre das unmöglich.

Am Dienstag hörte Richter Goldring die Geschichte des jüngsten Hillsborough-Opfers. "Jon-Paul Gilhooley war zehn Jahre alt", schrieb seine Mutter, "und ich weiß, dass er sehr stolz auf seinen Cousin gewesen wäre." Der Cousin heißt Steven Gerrard, und ist Liverpools Kapitän.

© SZ vom 26.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: