Finale der Fußball-WM:Kroatien feiert Weihnachten im Juli

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Kroatische Fans nach dem Viertelfinal-Sieg gegen Russland in der Hauptstadt Zagreb. (Foto: REUTERS)

Wirtschaftliche Misere, Jugendarbeitslosigkeit, Korruption? Alles verdrängt. Kroatien berauscht sich an der WM und träumt vom ersten Titel. Auch über die Verfehlungen der Fußballer möchte in Zagreb niemand sprechen.

Reportage von Florian Hassel, Zagreb

Der Weg nach Moskau sollte für Dražen Lalić über Bratislava führen. Abertausende kroatischer Fußballfans versuchten, bis Sonntag um 17 Uhr doch noch den 2300 Kilometer langen Weg ins Moskauer Luschniki-Stadion zu schaffen. Per Flugzeug aus Zagreb, Belgrad, Wien oder Bratislava. Mit dem Bus oder mit dem eigenen Wagen. Oder, für diejenigen mit tiefer Brieftasche, per Charterjet. "Es ist der Wahnsinn: Selbst wenn wir die ganze Flotte von Qatar Airways zur Verfügung gehabt hätten, hätten wir alle für Flüge nach Moskau verchartern können - und niemand hat nach dem Preis gefragt", sagte eine Vertreterin der Fluggesellschaft Trade Air der Zagreber Tageszeitung Jutarnij list.

Tickets für das Finale kauften findige Kroaten auf dem Schwarzmarkt unter anderen den im Halbfinale besiegten Engländern ab. Die in Zagreb kolportierten Preise für Finaltickets reichen von 1200 bis zu 110 000 Euro. Einen Flug von Bratislava nach Moskau hätte Fußballfan Lalić sicher gehabt - die Eintrittskarte aber blieb unerreichbar.

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Beim Finaleinzug der Nationalelf ist (fast) ganz Zagreb auf den Beinen. Die kroatischen Fans zelebrieren sportliche Erfolge seit jeher ausgelassen - wie auch das Beispiel eines Wimbledon-Siegers zeigt.

Von Dominik Schelzke

So gehört Lalić, Fußballhistoriker und Politologe in Zagreb, nun zu denjenigen unter den vier Millionen Kroaten, die im eigenen Land die wohl größte Straßenparty seit ihrer Unabhängigkeit feiern. Schon am Samstagnachmittag, als die Kroaten sich beim Spiel um den dritten Platz die Niederlage der Engländer gegen Belgien ansahen, waren die Straßen leergefegt. Am Sonntag haben in Kroatien, obwohl offiziell hochkatholisch, Geschäfte, Supermärkte und Einkaufszentren gewöhnlich geöffnet. Nicht am Tag des WM-Finales: Kroatien hat geschlossen. "Das gibt es bei uns sonst nicht einmal Weihnachten", sagt Lalić.

Der Fußball verdrängt Kroatiens wirtschaftliche Misere

Auf vielen Plätzen im Zentrum Zagrebs, in der Altstadt von Dubrovnik, in Split und anderswo werden Kroaten das wichtigste Ereignis der kroatischen Sportgeschichte auf Großleinwänden verfolgen. Wie das Finale gegen Frankreich ausgeht, scheint dabei beinahe egal zu sein: Der Einzug ins WM-Finale ist im sportverrückten Kroatien auf jeden Fall der größte sportliche Erfolg seiner Geschichte. Außer Uruguay habe es nie zuvor ein so kleines Land in ein WM-Finale geschafft, betonten Kroatiens Medien.

Und falls der Zagreber Bäckermeister Recht behält, der Baguettes gerade 30 Prozent billiger verkauft und sich sicher ist, dass "wir die Franzosen verspeisen werden" und Kroatien das leicht favorisierte Frankreich besiegt? "Gold für uns würde die Chronisten zwingen, die Geschichte über das größte Sportmärchen aller Zeit umzuschreiben", kommentierte Jutarnj List.

Verdrängt sind Kroatiens wirtschaftliche Misere, die hohe Jugendarbeitslosigkeit und Auswanderung seiner Jugend, Klientelpolitik und Korruption. Ebenso der desolate Zustand des Fußballs im eigenen Land, die Korruption auch im Fußballverband, der Dauerkrieg zwischen den Anhängern von Dinamo Zagreb und Hajduk Split oder der erstarkende Nationalismus. 70 Prozent der Kroaten sind einer aktuellen Umfrage zufolge der Meinung, dass ihr Land in die falsche Richtung geht - doch zumindest bis Montag tritt all dies in den Hintergrund. "Wir haben ein paar Wochen Urlaub von unserem eigenen Land und dem für viele traurigen kroatischen Alltag genommen", sagt der Autor Nenad Popovic, einer der profiliertesten Intellektuellen Kroatiens.

Der Prozess gegen Luka Modric ist in diesen Tagen tabu

Weniger erfreuliche Begleiterscheinungen des kroatischen Fußballs fallen in Kroatiens allgemeiner Euphorie unter den Tisch: die Ermahnung der Fifa, weil ein kroatischer Fan beim Spiel gegen Nigeria in Kaliningrad das Banner der Ustascha präsentierte, der kroatischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg. Ein Video von Spieler Dejan Lovren, der nach dem Sieg über Argentinien ein Lied des mit Kroatiens faschistischer Ustascha-Ideologie sympathisierenden Rocksängers Marko Perkovic mit dem Künstlernamen Thompson sang.

Nach dem Sieg über Russland sorgten zudem zwei Videos des Verteidigers Domagoj Vida Schlagzeilen, in dem der ehemalige Spieler von Dynamo Kiew nicht nur den Slogan ukrainischer Nationalisten "Ruhm der Ukraine!" rief, sondern auch "Belgrad brenne!". Gemeint war indes das serbische Café "Belgrad" in Kiew, mit dessen serbischem Besitzer Vida befreundet ist.

Auch die Zukunft von Starspieler Luka Modric außerhalb des Fußballfeldes bleibt in diesen Tagen tabu. Modric ist in Kroatien wegen Meineids und Falschaussage angeklagt: In einem spektakulären Prozess gegen Zdravko Mamic, den mit Kontakten bis hinauf zur Präsidentin versehenen Paten des kroatischen Fußballs, hatte Modric erst über sittenwidrige Verträge ausgepackt - doch seine Aussage vor Gericht widerrufen.

Kroatiens Ökonomen ziehen schon jetzt eine positive Bilanz der WM. Kroatien rechnet 2018 mit einem Touristenboom von schätzungsweise 20 Millionen Besuchern - in der Küstenstadt Dubrovnik und Umgebung etwa angeheizt durch die dort gedrehte Filmserie "Game of Thrones". Doch dies sei nichts im Vergleich zur Werbung durch die WM: "Jeder auf der Welt weiß jetzt, was und wo Kroatien ist und wie es bei uns aussieht", ist auf Zagrebs Straßen und in den Cafés der gängige Ausdruck des Stolzes.

Der Zagreber Ökonom Tomislav Globan hofft, wie er Jutarnij List sagte, dass die Atmosphäre von Optimismus und Euphorie noch eine Weile anhält - und die Kroaten den WM-Erfolg wirklich ausgiebig feiern. Kroatien, sagte er, könne in neun Monaten womöglich mehr Babys erwarten.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels waren Informationen über das Café "Belgrad" in Kiew nicht enthalten. Dies war missverständlich. Darum haben wir ergänzt, dass Demagoj Vida nicht auf die serbische Stadt Belgrad anspielte, sondern auf die Stimmung in dem Café.

© SZ vom 15.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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