Elfmeter von Harry Kane:Kane kann's

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Elfmeter ins Glück: Harry Kane jagt den Ball im Shootout gegen Kolumbien links unten ins Netz. (Foto: Clive Rose/Getty Images)
  • Die Elfmeter von Harry Kane haben England bei der WM weit gebracht.
  • Dabei benutzt der Stürmer aus Tottenham eine besondere Technik - und er läuft nur sehr kurz an.

Von Sven Haist, Moskau

Ein Kopfnicken genügte. Mehr brauchte es nicht zur Verständigung zwischen dem englischen Nationaltrainer Gareth Southgate und seinem Kapitän Harry Kane. In der Vorbereitung aufs Elfmeterschießen gegen Kolumbien arbeitete Southgate die Liste seiner Strafstoßschützen ab. Durch Blickkontakt mit den Auserwählten und einem Tätscheln des Kopfes machte er endgültig klar, was lange vor Anpfiff des Viertelfinales verabredet worden war. Auf einem Block, den Southgate in der rechten Hand hielt, stand sein exakter Plan, mit dem England dieses Ausscheidungsschießen gewinnen wollte.

Daher war für Kane klar: Als geübtester Schütze würde er ungeachtet der Erkenntnisse aus der regulären Spielzeit und der Verlängerung den ersten Elfmeter übernehmen. Das beruhigende Wissen, dass Southgate ihm nicht buchstäblich in letzter Sekunde die Zusage entzieht und auf einen anderen überträgt, ließ ihn in seiner Konzentration ganz bei sich bleiben. Kane konnte sich in dieser Extremsituation auf Southgate verlassen, so wie sich Southgate in dieser Extremsituation auf Kane verlassen konnte. Die Beziehung zwischen Southgate und Kane erinnerte an zwei Bergsteiger in dünner Luft im Hochgebirge, deren Leben am selben Seil hängt.

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Das Vertrauen übertrug sich in ähnlicher Form vor diesem Elfmeterschießen auf jede andere zwischenmenschliche Verbindung im englischen Nationalteam. Und dieses berechenbare Handeln vor dem unberechenbaren Shootout bildete am Ende die Grundlage, dass England im vierten Versuch bei einer Weltmeisterschaft erstmals ein Elfmeterschießen gewinnen konnte - entgegen der fatalistischen Schwarzmalerei der eigenen Bevölkerung und dem Rest der Welt. Zur englischen Einbildung, bei Strafstößen zu versagen, gehört allerdings auch dieser Fakt: Das Mutterland des Fußballs hat in seiner WM-Historie während des Spiels von elf erhaltenen Elfmetern elf verwandelt.

Bis auf Jordan Henderson trafen am Dienstag in Moskau alle Schützen beim 5:4 gegen die Kolumbianer. Durch diesen Erfolg legten die Three Lions ihre fast krankhafte Angst vor dem Shootout ab, am Samstag könnten sie nun zum dritten Mal nach 1966 und 1990 beim Treffen mit Schweden wieder ein Halbfinale erreichen.

Torwart David Ospina aus Kolumbien ahnt die Ecke. Kann aber nichts ausrichten. (Foto: Antonio Calanni/dpa)

Mit einer Seelenruhe, wie sie ein Mensch sonst fast nur im Schlaf besitzt, liefen die englischen Spieler im Spartak-Stadion nacheinander in der immer gleichen Schrittfrequenz aus dem Mittelkreis über das halbe Spielfeld zum Strafstoßpunkt. Das Vorgehen der Spieler passte sich dem wegweisenden Harry Kane an, als ob die Profis an einer Schnur aufgezogen wären.

Den Ball bekam Kane vor dem Strafraum von seinem Torwart Jordan Pickford überreicht, nachdem Radamel Falcao für Kolumbien das Duell aus elf Metern erfolgreich eröffnet hatte. Als er den Ball hingelegt hatte, sortierte Kane seine Empfindungen, richtete kurz Stutzen, Hose und Trikot, hielt noch einmal inne, um sich dann im Winkel von etwa 45 Grad zum Ball nach hinten abzusetzen. Die Länge des Anlaufs war penibel abgezählt, um die nervliche Belastung mit einem Bewegungsmuster zu kontern, das in jahrelangem Training tausendmal und noch viel öfter eingeübt wurde.

Bei Kane, 24, beginnt dieser Prozess mit klitzekleinen Trippelschritten, die dafür sorgen sollen, mit einem guten Gefühl und mit dem richtigen Timing auf den Ball zu treffen. Aufgrund der geringen Distanz zum Spielgerät bei der Ausführung und der geringen Geschwindigkeit im Anlauf hält der Angreifer die Gefahr in Grenzen, jene Art von Ungenauigkeit einzubauen, die ihn aus dem Rhythmus bringt. Im Gegensatz zu anderen Spielern kann Kane den Elfmeter beinahe aus dem Stand heraus schießen.

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Durch seine Kraft ist er in der Lage, den Ball extrem zu beschleunigen. Das flache Platzieren des Balls möglichst nahe an den Pfosten heran liegt ihm in den Füßen, bei seinen Torschüssen zielt er ohnehin pausenlos auf diese Weise in die Ecken. So gesehen ist ein Elfmeter für Kane nichts weiter als ein banaler Schuss aufs Tor. Sein Gespür für Treffer gibt ihm dabei die Richtung vor, wohin der Ball muss und wohin der Torwart womöglich springt.

Die erfolgreiche Kombination in der Auseinandersetzung mit Kolumbien, den ersten Elfmeter in der regulären Spielzeit in die Mitte und den zweiten in die eine Torecke zu schieben, hat Kane für Tottenham Hotspur in der Liga schon mal ausprobiert. Im Februar scheiterte er bei Tottenhams 2:2 im Duell mit dem FC Liverpool noch mit seinem Lupfer ins Zentrum, ehe die kraftvolle Variante auf die Seite den Erfolg brachte. Der vergebene Versuch ist Kanes einziger Fehlschuss seit Dezember 2016.

Bei 30 Elfmetern aus dem Spiel heraus hat der Mittelstürmer in seiner Profikarriere sechs davon nicht ins Tor gebracht, darunter seinen ersten Strafstoß überhaupt in der zweiten Qualifikationsrunde zur Europa League gegen Heart of Midlothian, damals, im August 2011. Durch den bislang letzten Strafstoß in dieser Reihe, die geglückte Ausführung in der 57. Minute gegen Kolumbien, hat Harry Kane nun in sechs aufeinander folgenden Länderspielen für England getroffen. Damit hat er den 79 Jahre alten Rekord des Stürmers Tommy Lawton eingestellt.

© SZ vom 06.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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