Handball-Bundestrainer:Dagur Sigurdsson - Verwandler der deutschen Handballer

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Dagur Sigurdsson übernahm 2014 die Handball-Nationalmannschaft als Trümmerhaufen. Nun führt er das Team mit Ruhe und taktischer Finesse zu einem irreal anmutenden EM-Titel.

Von Joachim Mölter, Krakau

Natürlich hat Dagur Sigurdsson in den vergangenen zweieinhalb Wochen auch mal die Fäuste geballt und ein bisschen mit den Armen gesägt, er hat den Mund aufgerissen und ein Schreichen losgelassen, er ist sogar mal herumgehüpft. Aber meistens ist der Trainer der deutschen Handballer brav auf dem Boden geblieben, selbst am Sonntagabend, als er in der Tauron-Arena von Krakau die EM-Schale in die Höhe wuppte, das real fassbare Zeichen eines irreal anmutenden, im Grunde unfassbaren Erfolges.

Dagur Sigurdsson, 42, geboren in der isländischen Hauptstadt Rejkjavik, hat die einzelnen Stationen und die einzelnen Siege auf dem Weg zum zweiten EM-Titel des Deutschen Handballbundes (DHB) nach 2004 derart ungerührt analysiert und kommentiert, dass es vielen Beobachtern unheimlich vorgekommen ist. Geht er denn nie aus sich heraus, nicht mal ein bisschen? Müssen da nicht Fanfaren tönen, Glocken läuten, Gänsehäute kribbeln? Oder brechen sich die Gefühle erst im Hotelzimmer Bahn, wenn er alleine ist: Schrammelt er dann auf der Luftgitarre, knieend und headbangend, und denkt, yeah, ey, supergeil?

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"Genauso mache ich das", hat Dagur Sigurdsson gesagt nach dem 25:23 über den Titelfavoriten Dänemark, das seine Auswahl schon sensationell ins Halbfinale gebracht hatte. Er hat keine Miene verzogen dabei, auch nicht, als er trocken und tonlos, allenfalls mit einem Hauch von Süffisanz, hinzufügte: "Supergeil."

Der Isländer beherrscht die Kunst der Pause so wie er die Kunst der Taktik im Handball beherrscht. Nach dem beeindruckenden Finalsieg über Spanien am Sonntagabend in Krakau, dem erstaunlich ungefährdeten 24:17 (10:6), ist er gefragt worden, ob das nun in seinen Augen ein perfektes Spiel gewesen sei. "Ja, das war ein perfektes Spiel", hat Sigurdsson bestätigt. "Für heute."

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Mit seiner unaufgeregten Art hat Dagur Sigurdsson die Mannschaft geprägt, mehr noch als mit seinen unendlich vielen taktischen Varianten, mit denen er jeden neuen Gegner vor neue Probleme gestellt hat. "Er ist ein taktisches Genie", findet der 2,10 Meter große Finn Lemke, der im Lauf des Turniers in die Rolle des Abwehrchefs hineingewachsen war: "Er hat uns perfekt eingestellt." Und danach hat sich Dagur Sigurdsson dieses Finale so angeschaut wie die vorherigen Partien auch: am Spielfeldrand stehend, die Arme verschränkt, eine große Gelassenheit und Ruhe ausstrahlend. "Wer braucht denn vor dem Finale eine Motivationsansprache?", hatte Finn Lemke rhetorisch gefragt: "Da brauchst du einen Plan, keinen Heißmacher." Also einen kühlen Analytiker wie Sigurdsson.

"Wir haben uns nicht aus der Ruhe bringen lassen, die ganzen 60 Minuten lang", beschrieb Regisseur Martin Strobel das Erfolgsrezept gegen Spanien im Finale. "Keine Frustration zeigen, keine Anhaltspunkte dafür geben", das habe ihnen Sigurdsson mit auf den Weg gegeben, verriet Lemke: "Das haben wir nämlich im ersten Spiel gegen Spanien gemacht." Die Auftaktpartie der EM ging 29:32 verloren für die DHB-Auswahl, da hatten die mit immerhin zehn ehemaligen Weltmeistern besetzten Spanier Unsicherheiten im jungen deutschen Team bemerkt, dem jüngsten des gesamten Turniers, und waren innerhalb von wenigen Minuten entscheidend auf 18:11 davongezogen.

"Die Deutschen haben sich enorm verbessert seit dem ersten EM-Spiel", stellte Spaniens Chefcoach Manuel Cadenas am Sonntag nun fest. Im Finale waren es nämlich seine Akteure gewesen, die ihre Frustration früh offenbart hatten, weil sie entweder gar nicht erst zum Werfen gekommen, ihre Würfe in der deutschen Abwehr hängengeblieben oder letztlich vom überragenden Torhüter Andreas Wolff abgewehrt worden waren.

"Ich hatte von vornherein ein Super-Gefühl, dass wir das Ding heute reißen", sagte der für den verletzten Kapitän Steffen Weinhold nachnominierte Kai Häfner, mit sieben Toren bester Schütze im Endspiel. Auch er berichtete von einer "klaren Marschroute" des Coaches: "Gut in der Abwehr stehen, schnell nach vorne spielen." Mehr Anhaltspunkte gab Dagur Sigurdsson während des gesamten Turniers nicht nach draußen: starke Abwehr, gute Torhüterleistung, schnell nach vorne - das waren die drei Punkte, auf die er so oft hinwies, dass er irgendwann selbst mal fand, "das ist langweilig".

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Taktische Details oder spezielle Vorgaben wollten auch die Spieler nicht verraten. "Wenn der Coach nichts sagt, sage ich lieber auch nichts", meinte Häfner. "Wir vertrauen ihm blind", sagte der Kreisläufer Erik Schmidt bloß. Bleibt also nur festzustellen: "Es ist Dagur gelungen, eine Mannschaft auf die Platte zu stellen, die keine Angst vor Nichts hat." So hat es Bob Hanning formuliert, der DHB-Vizepräsident für Leistungssport und Manager der Füchse Berlin. Hanning hatte Sigurdsson im Sommer 2014 von seinem Klub zum Verband vermittelt.

Dort hat Sigurdsson eine eingeschworene Gemeinschaft geformt, die nun entgegen allen Erwartungen die Europameisterschaft gewann. Zwei Jahre nachdem sie in Dänemark erstmals bei einer EM gefehlt hatte, so wie sie schon 2012 erstmals bei Olympia nicht dabei war. Anderthalb Jahre nachdem er einen Trümmerhaufen von Mannschaft übernommen hatte, die gerade auch noch die sportliche Qualifikation für die WM 2015 in Katar verpasst hatte. Für die bekam der DHB dann eine Wildcard, darauf gründete Sigurdsson den Neuaufbau. So wie er einst mit einem Freund in Rejkjavik eine heruntergekommene Keksfabrik in ein modernes Hostel verwandelt hatte, das Kex.

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Bei der EM in Polen fehlten Sigurdsson zwar wesentliche Stützen der WM: Patrick Wiencek, Paul Drux, Uwe Gensheimer und Patrick Groetzki sind verletzt. Dass während des Turniers in Steffen Weinhold und Christian Dissinger zwei weitere tragende Säulen wegbrachen, hat den Coach auch nicht ins Wanken gebracht. Er hat einfach neue, vor allem junge Leute eingebaut. "Er vertraut denen, die er auf die Platte schickt, hundertprozentig", sagt Jannik Kohlbacher, mit 20 der Jüngste im Team und einer der insgesamt neun Spieler, für die es das erste große Turnier in ihrer Handball-Karriere gewesen ist.

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Wenn all die Verletzten zurückkommen und wieder in die Mannschaft drängen, muss Sigurdsson wieder etwas umbauen, die Statik seiner Auswahl ändern und anpassen. Dass er flexibel reagiert, hat er ja bei der EM bewiesen. Für den weiteren Aufbau hat er Zeit gewonnen durch den EM-Titel: Damit ist die DHB-Auswahl bereits direkt für Olympia im Sommer in Rio de Janeiro sowie für die Weltmeisterschaft 2017 in Frankreich qualifiziert. Prima Belastungstests seien das, findet Sigurdsson: "Damit die junge Gruppe lernt, unter Druck spielen zu müssen."

Es wird auch wieder Rückschläge geben, darauf hat Dagur Sigurdsson im Laufe des Turniers auch noch hingewiesen. So wie man ihn kennengelernt hat, wird er ganz unaufgeregt damit umgehen und auch dann auf dem Boden bleiben. Was sollte er auch sonst tun? Er wird sich nicht in der Erde vergraben. Und schon gar nicht in die Luft gehen.

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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