Halbfinale der Fußball-EM:Spektakulär gespielt - und trotzdem draußen

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Spielkontrolle, dominante und offensive Ausrichtung - Deutschland hatte Frankreich viel voraus. Außer Tore.

Von Thomas Hummel, Marseille

Manuel Neuer brachte eine ganz neue Perspektive in die Kellerräume des Stade Vélodrome. "Wenn man das umgekehrt sehen würde", setzte er an, "wir hätten hier ein Heimspiel gehabt und wären so aufgetreten wie Frankreich, dann hätte glaub ich unser Stadion gepfiffen."

Solange das Ergebnis stimmt, darf man im Fußball alles machen

Die Franzosen aber pfiffen nicht. Kein bisschen und zu keinem Zeitpunkt. Im Gegenteil lehnten sich noch nachts um 1:30 Uhr junge Männer mit und ohne T-Shirt aus fahrenden Autos auf der Hauptstraße La Canebière und bliesen in Plastiktrompeten. Die Leute in Marseille und ganz Frankreich hatten überhaupt nichts einzuwenden gegen die schüchterne und bisweilen schwache Vorstellung ihrer Mannschaft. Solange das Ergebnis stimmt, darf man im Fußball alles machen.

Der deutsche Torwart überschätzte wohl auch das ästhetische Verlangen des deutschen Fußballpublikums. Dies würde mit Sicherheit gestatten, ein Halbfinale bei einer Heim-EM mit 32 Prozent Ballbesitz zu gewinnen. Neuers Aussagen sagten vielmehr etwas über das Selbstverständnis der Nationalmannschaft aus. Die Franzosen siegten zwar 2:0. Mit der Art und Weise aber konnten die Deutschen wenig anfangen.

"Ich kann der Mannschaft nur ein Riesen-Kompliment aussprechen, weil wir die bessere Mannschaft waren", erklärte Bundestrainer Joachim Löw. Wenige Minuten nach dem Schlusspfiff war ihm anzumerken, dass er in dieser Nacht keinen Halbsatz an Kritik zulassen würde. Löw vertritt die Idee der Spielkontrolle, der dominanten, offensiven Ausrichtung. Seine Spieler hatten in diesem sehr kniffligen Halbfinale alles wie besprochen umgesetzt. Und dennoch verloren.

Frankreichs defensive Spielweise erzeugte deutlichen Missmut bei Löw

Der gegenteilige Ansatz erzeugt bei Löw indes so viel Missmut, dass es ihm bisweilen schwerfällt, den Schein von Respekt zu wahren. Nach ein paar Minuten Redezeit erinnerte er sich an seine gute Erziehung und merkte an, dass der Gastgeber den Einzug ins Finale seiner Europameisterschaft schon verdient habe und dort wohl auch die Portugiesen schlagen werde. Doch das war schon der einzige Moment bilateraler Diplomatie in Löws Betrachtung.

Seine Spieler hatten ja in vielerlei Hinsicht ein fast spektakulär gutes Halbfinale gezeigt. Nach einer ersten Phase der Orientierung gewöhnten sie sich daran, ohne ihre Kameraden Mats Hummels (gesperrt), Sami Khedira und Mario Gomez (verletzt) auszukommen und ließen den Ball von Fuß zu Fuß gleiten. Die Hereinnahme von Emre Can als zusätzlichen Mittelfeldmann führte zu einer Dominanz im Zentrum, die Franzosen liefen minutenlang hinterher. Eigentlich die gesamte erste Halbzeit. Vor allem Mesut Özil, Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger diktierten das Geschehen, so etwas hatten ihre Gegenspieler Paul Pogba, Blaise Matuidi oder Moussa Sissoko schon lange nicht mehr erlebt.

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Doch auch in den besten Phasen wollte der Eindruck nicht verfliegen, dass die Deutschen im Strafraum ein Problem hatten. Ging es um den Torschuss, fehlte die Durchsetzungskraft. Oder wie bei Thomas Müller der tiefe Glaube. "Wir haben viel versucht, ich habe viel versucht, aber es hat nicht sollen sein", sagte der Münchner später. Während es auf der anderen Spielfeldseite so sein sollte, dass Bastian Schweinsteiger beim Kopfball die Arme hochnahm, Patrice Evra den Ball an seine Hand köpfelte und Schiedsrichter Nicole Rizzoli Elfmeter gab. Antoine Griezmann verwandelte in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit zum 1:0. "Wir gehen mit 0:1 in Rückstand, obwohl die Franzosen gar nicht wussten, warum sie nun eigentlich führten", erklärte Müller.

Löw berichtete später, dass in der Kabine alle aufgeregt gewesen seien, die Spieler erst einmal beruhigt werden mussten. Was hätten sie mehr tun sollen als in der ersten Halbzeit? Viel besser wurde es auch nicht. Und glücklicher ebenso wenig. Nach einer Stunde verletzte sich Jérôme Boateng am Muskel, er musste von den Medizinern vom Platz geführt werden. Dann verlor Joshua Kimmich den Ball im eigenen Strafraum, Shkodran Mustafi konnte Paul Pogba nicht am Flanken hindern, Manuel Neuer klatschte den Ball ab und wieder Griezmann spitzelte ihn ins Tor - 0:2.

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"Das hat richtig wehgetan, weil ein Tor kann man immer schießen. Das zweite war ein bisschen der Genickbruch", erzählte Müller. Dabei schien es nun erst loszugehen. Kimmich an den Pfosten, Julian Draxler knapp vorbei, Leroy Sané knapp vorbei, Mustafi drüber, Mario Götze knapp vorbei, Kimmich scheiterte an Torwart Lloris - in der letzten Viertelstunde hatten die Deutschen plötzlich Chancen.

"Die ganze Arbeit, die wir reingesteckt haben, war umsonst­"

Nur keinen Erfolg. Schluss, vorbei. Statt am Freitag zum Endspiel nach Paris zu fliegen, geht's nun nach Hause. Manche waren darüber tief enttäuscht, Thomas Müller zum Beispiel wollte gleich alles vergessen: "Die ganze Arbeit, die wir reingesteckt haben, war umsonst­."

Löw lobte seine Mannschaft weiter unablässig. Sie habe tollen Teamgeist gezeigt, eine gute Energie ausgesendet, es sei ein gutes Turnier gewesen. "So viele Fehler habe ich jetzt nicht festgestellt", urteilte er. Er erinnerte sich an die Halbfinal-Niederlagen 2010 gegen Spanien und 2012 gegen Italien, da habe der Gegner den Seinen etwas vorausgehabt. "Das war heute nicht der Fall, heute hatten wir den Franzosen was voraus. Außer den Toren und dem Ergebnis." Dummerweise reicht das, um im Halbfinale auszuscheiden. Auch wenn Manuel Neuer die Weltöffentlichkeit auf seiner Seite wähnte: "Viele Fußballfreunde, nicht nur Deutsche, hätten uns gerne im Finale gesehen."

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