Halbfinale der Fußball-EM:Frankreich verweigert den Blick zurück

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Der letzte französische Sieg gegen den DFB bei einem Turnier datiert aus dem Jahr 1958. Deshalb will Frankreich die Vergangenheit endlich hinter sich lassen - aber geht das bei den Erinnerungen?

Von Claudio Catuogno, Clairefontaine-en-Yvelines

Moussa Sissoko könnte jetzt zum Beispiel von den gefürchteten Torjägerqualitäten des Benedikt Höwedes erzählen. Damit hat nämlich auch für ihn alles angefangen. Er stand damals auf dem Rasen, genauso wie Hugo Lloris, Blaise Matuidi und Yohan Cabaye auf französischer sowie Manuel Neuer, Jérôme Boateng, Sami Khedira, Toni Kroos und Mesut Özil auf deutscher Seite. Der Torwart Neuer hatte wie üblich ein paar unhaltbare Bälle gehalten, einen davon aus Versehen mit dem Kopf, und nun lief die 90. Minute.

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Von der linken Seite kam eine letzte Flanke herein. Höwedes schoss zunächst dem Torwart Lloris gegen die Hand, der Ball prallte ihm zurück in den Schoß, im Fallen stocherte er ihn über die Linie. Wie genau, wusste er später auch nicht so recht, er hatte kurz vorher ein Knie gegen den Kopf bekommen und erinnerte sich an keine Details. Aber der Ball war im Tor, die Deutschen hatten gewonnen. Die ewige Konstante der deutsch-französischen Fußballbeziehungen.

Welche Erinnerungen bleiben?

Am Dienstag nimmt Moussa Sissoko in Clairefontaine-en-Yvelines im Pressekonferenz-Raum des französischen Fußballverbandes Platz. Es geht jetzt wieder gegen die Deutschen, diesmal im Halbfinale der Europameisterschaft. Die französischen Reporter unternehmen einige Versuche, Sissoko ein paar Erinnerungen zu entlocken.

Zu diesem 0:1 etwa am 15. Oktober 2008 in Metz, das den deutschen Fußball-Junioren die Teilnahme an der U21-EM in Schweden sicherte, wo sie 2009 den Titel gewannen. "Les Espoirs", wie der Nachwuchs in Frankreich genannt wird, die Hoffnungen, waren raus. Seitdem besteht eine Rivalität zwischen den talentierten Generationen beider Länder, oder Moussa?

"Nein, keine Rivalität", brummt Sissoko: "Aber die Deutschen haben eine große Mannschaft, das wissen wir." Und das 1:0 der Deutschen im WM-Viertelfinale von Rio, vor zwei Jahren? "Das hängt uns noch im Hals", sagt Sissoko. Aber das soll jetzt auch keine Rolle spielen. Nächster Versuch: Das Spiel am 13. November 2015 im Stade de France, als das 2:0 der Franzosen irrelevant wurde angesichts des Terrors am Stadion und in der Stadt - wie hat er die Nacht in Erinnerung, in der Franzosen und Deutsche gemeinsam in den Katakomben ausharrten bis in den Morgen? "Da habe ich mit keinem von ihnen geredet, aber vielleicht andere aus unserem Team", sagt Sissoko. Auch dieses Kapitel: abgehakt. "Fußball ist dafür da, den Leuten Freude zu bereiten, nur das ist jetzt unser Ziel."

Benedikt Höwedes erzielte damals das entscheidende Tor zum 1:0-Endstand für Deutschlands Nachwuchs. (Foto: dpa)

Moussa Sissoko, 26, von Newcastle United redet generell nicht so viel. Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, dass er sich konsequent dem Blick in die Vergangenheit verweigert. Die Franzosen machen das alle so in der Abgeschiedenheit von Clairefontaine. Sich bloß nicht einreden lassen, dass es da eine Systematik gibt gegen die Deutschen, einen Fluch, und dass die Enttäuschung am Ende sowieso unausweichlich ist. Seit 1958 haben Les Bleus bei keinem Turnier mehr gegen den Nachbarn gewinnen können. Die Deutschen sind für die Franzosen das, was die Italiener jahrzehntelang für die Deutschen waren: die ewig unüberwindbare Hürde.

Der Blick in die Vergangenheit begleitet große Fußballspiele immer. Aber die aktuelle Spieler-Generation schaut jetzt eher nicht auf Sevilla 1982 oder auf Guadalajara 1986. Für Sissoko und seine Generation ist Metz 2008 präsenter. Und vor allem Rio 2014 - die WM in Brasilien hatte sich sehr nach Aufbruch angefühlt für die Elf von Didier Deschamps. Dann kam Mats Hummels angeflogen.

Die Zeitung L'Équipe hat diese Partie in der brasilianischen Mittagshitze am Dienstag noch mal umfassend aufbereitet. Erneut in der Hauptrolle: Manuel Neuer, der mit der Lässigkeit eines Handballtorhüters kurz vor Schluss einen Schuss von Karim Benzema abwehrte; für die Deutschen war das eine Schlüsselszene auf dem Weg zum Titel. Für die Franzosen war es nur eine Episode - sie haben dafür das Gegentor noch sehr präsent, Hummels' Kopfball nach einem Freistoß.

Paul Pogba hat das Foul begangen, ein Zupfer am Arm von Kroos, wobei: War das eigentlich ein Foul? Mathieu Debuchy, der dabei war, sagte L'Équipe: "Ich glaube nicht, dass es ein Foul war, Kroos hatte den Ball verloren. Aber selbst wenn: Das Foul war weit genug weg von unserem Tor." Die längsten DFB-Spieler stellten sich nun im französischen Strafraum auf, Klose, Hummels, Müller. Raphaël Varane stellte sich einen Meter neben Hummels. Kroos nahm vier Schritte Anlauf, brachte den Ball scharf vors Tor, Hummels schraubte sich in die Luft.

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War das jetzt möglicherweise ein Foul? "Ich hatte das Gefühl, dass Raphaël aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, als er in der Luft war", sagt Debuchy, und wenn man nur lange genug sucht, findet man weitere Kronzeugen. "Von der Bank aus hatte ich das Gefühl, es war ein Foul." Sagt Mickaël Landreau. Der dritte Torwart. Es ist das alte Spiel: Der Verlierer hält sich an Details fest, die beweisen, dass er auch der Gewinner hätte sein können. "In Frankreich wird diskutiert, ob das ein Foul von mir war?", hat Hummels kürzlich ungläubig festgestellt: "Natürlich war es keins."

"Wir spielen zu Hause, kassieren bisher wenige Tore"

Am Donnerstag geht die Geschichte weiter. Was für die Franzosen spricht, erzählt Sissoko: "Wir spielen zu Hause, wir kassieren bisher wenige Tore, nur zwei Elfmeter, wir schießen selbst viele Tore." Und die Deutschen haben Personalprobleme. Für die Deutschen spricht: Sevilla, Guadalajara, Metz, Rio . . .

Younès Kaboul, der die Franzosen damals fast in Führung geschossen hätte in Metz, wenn Neuers Kopf nicht im Weg gewesen wäre, und der heute beim FC Sunderland spielt, sagt: "Es hieß immer, dass die Deutschen nie gegen Italien gewinnen, und nun haben sie es getan. Jetzt ist es an uns." Mats Hummels wird nicht dabei sein. Für ihn könnte Höwedes spielen.

© SZ vom 06.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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