EM-Aus der Türkei:"Ich habe Männer weinen sehen"

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Traurig: Arda Turan. (Foto: Getty Images)

Groß ist die Wut der Türken nach dem bitteren EM-Aus - insbesondere auf die Italiener. Dabei ist das zerstrittene Team selbst Schuld.

Von Johannes Kirchmeier

So nah wie am Mittwochabend fühlten sich die beiden französischen Orte Perros-Guirec und Saint-Cyr-sur-Mer vermutlich noch nie - zumindest emotional. Geografisch gesehen können zwei Gemeinden in Frankreich ja fast nicht weiter auseinander liegen. In Perros-Guirec, im Nordwesten am Atlantischen Ozean gelegen, befand sich das EM-Quartier der Albaner; in Saint-Cyr-sur-Mer, im äußersten Südosten am Mittelmeer, residierten die türkischen Fußballer. Sowohl die Albaner als auch die Türken saßen vor ihren TV-Geräten, sie verfolgten die EM-Partien, gemeinsam hofften sie einen Abend lang, sich als Gruppendritte für das Achtelfinale der Europameisterschaft zu qualifizieren.

Vor den Spielen wären sie auch qualifiziert gewesen, am Ende blieb nur die Enttäuschung: Beide sind nach der Gruppenphase ausgeschieden. Oder anders ausgedrückt: Ihre Gebete wurden nicht erhört. Albaniens erster und einziger EM-Torschütze Armando Sadiku sagte dem Züricher Tagesanzeiger ja noch vor den abschließenden Partien: "Wir werden jetzt halt mit der Mannschaft viel vor dem TV sitzen und sagen: 'Lieber Gott, bitte!'"

"Italien hat uns verbrannt"

Der neue Modus der auf 24 Mannschaften erhöhten Europameisterschaft fordert es nämlich, dass zwei der sechs Gruppendritten im Achtelfinale nicht mehr mitspielen dürfen - Albanien und die Türkei. Portugal (3:3 gegen Ungarn) und Irland (1:0 gegen Italien) zogen am Donnerstag im Quervergleich vorbei. Die Türken wurden erst kurz vor Ende der Gruppenphase überholt, als Robbie Brady in der 84. Minute gegen Italien die Führung für Irland erzielte.

Dementsprechend geknickt reagierte Kapitän Arda Turan am Tag nach dem Ausscheiden: "Ich habe Männer weinen sehen", beschrieb er den gemeinsamen Fernsehabend. Die Zeitungen titelten am Donnerstag: "Italien hat uns verbrannt", "Die Italiener haben uns das Spiel verdorben!" oder "Italien hat für die Niederlage alles getan". Am Ende müssen sich die Türken aber eingestehen, dass sie selbst eine sehr wechselhafte EM gespielt haben und Italiens Versagen herzlich wenig für ihr Ausscheiden kann: Nach zwei schwachen Partien gegen Kroatien (0:1) und Spanien (0:3) zeigten sie immerhin ein gutes Abschlussspiel gegen Tschechien (2:0).

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Durch die Ergebnisse der Vorrunde wird der Weg für die Favoriten schwierig - sie spielen früher als gedacht gegeneinander. Vor allem Gastgeber Frankreich hatte sich etwas anderes ausgerechnet.

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Um das Team herrschte in Frankreich lange eine Unruhe wie einst in der Sendung Das literarische Quartett: Jeder kritisierte jeden. Die Experten kritisierten Nationaltrainer Fatih Terim. Terim kritisierte die Mannschaft, nachdem sie die Niederlage gegen Spanien "hingenommen und nicht gespielt" habe. Und nach dem erfolgreichen Abschluss kritisierte Terim wiederum die Experten des Fernsehsenders TRT - und gab ihnen etwas beleidigt kein Interview.

Die Albaner, die am Donnerstagmittag in die Heimat flogen, wo sie feierlich in der Hauptstadt Tirana empfangen wurden, erlebten ihr eigenes Drama - und wussten am Ende gar nicht, ob sie stolz oder traurig sein sollten über das Geschehene. Sie hatten ihr Turnier schon am Sonntagabend als Gruppendritter beendet, seitdem bangten sie ums Weiterkommen. Seitdem fieberten sie bei den Spielen vor dem Fernseher mit vielen Mannschaften mit, die meisten enttäuschten sie - im Übrigen auch Deutschland, das nur 1:0 gegen den direkten Konkurrenten Nordirland gewann.

"Die anderen wussten genau, wie sie spielen mussten, um uns zu überholen, da wir vorlegen mussten. Das ist doch Wettbewerbsverzerrung", sagte der albanische Innenverteidiger Mergim Mavraj zu F AZ.net. Vier Tage lang wussten die Albaner nicht, ob sie sich auf einen Gegner vorbereiten oder ob sie ihre Figur gerade nur für den folgenden Urlaub am Strand stählen.

Trainer Gianni de Biasi versuchte fast etwas krampfhaft, das Team in Turnierform zu halten. Er bereitete sein Team weiterhin aufs Achtelfinale vor, behielt den Tagesablauf bei. "Aber man merkt, dass auch bei ihm die Spannung abgefallen ist", sagte der für den 1. FC Köln spielende Mavraj.

"Ein fantastisches Kapitel"

Sein Team schien dennoch glücklich mit dem Abschneiden zu sein. Anders als die bereits viermal qualifizierten Türken feierte das albanische Nationalteam ja Premiere bei der europäischen Großveranstaltung. "Ein fantastisches Kapitel des albanischen Fußballs geht zu Ende", schrieb der albanische Premierminister Edi Rama auf Facebook. Die Nationalspieler will er mit einer Million Euro entlohnen und mit Diplomatenpässen ausstatten, die sonst nur hochrangige Politiker bekommen.

Sie dürfen nach den drei Partien in Frankreich stolz auf sich sein. Und trotz der Kritik am Modus der EM müssen sich ja beide Teams eingestehen: Bei den früheren Turnieren wären sie als Gruppendritte sowieso ausgeschieden.

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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