DFB-Offensive bei der WM:Das letzte Elftel fehlt

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Nachdenklich: Bundestrainer Joachim Löw. (Foto: dpa)

Trotz des Gruppensiegs in der Vorrunde kann Bundestrainer Löw ein Problem bislang nicht lösen: Es fehlt die Zuspitzung. Die Räume vor dem Tor sind nicht konsequent besetzt, der letzte Pass kommt nicht an. Vermisst wird vor allem der verletzte Marco Reus.

Von Christof Kneer, Santo Andre

Zwei Nachrichten gab es zuletzt von Marco Reus, die eine hieß: Ibiza. Die andere lautete: Teilriss der Syndes- mose und knöcherner Bandausriss an der Fersenbein-Vorderseite. Beide Nachrichten können nur zusammen verstanden werden, es ist nämlich so: Marco Reus macht Urlaub auf Ibiza, weil ein Teilriss der Syndesmose sowie ein knöcherner Bandausriss an der Fersenbein-Vorder- seite die WM-Teilnahme verhindern.

Diese dritte und entscheidende Nachricht hatte man ja fast schon wieder vergessen: Marco Reus fehlt in Brasilien. Man hat das vergessen, weil die deutsche Auswahl zurzeit auch so gewinnt - und weil Joachim Löw für die Dauer eines Turniers alle Spieler, die ihn nicht auf der großen Reise begleiten konnten, aus seinem Gedächtnis gestrichen hat. Im Fall Reus dürfte diese Art von Amnesie eine Art Selbstschutz sein: Würde Löw darüber nachdenken, würde er mindestens verrückt.

Marco Reus gibt es nicht!, dieser selbstverordnete Gedächtnisschwund hat eine Weile ganz gut funktioniert, aber pünktlich zum Beginn der K.o.-Runde hat sich die Erinnerung mit Macht zurückgemeldet. Wer nach dem 1:0 gegen die USA durch die Interviewzone streifte, dem haben schon ein paar aufgeschnappte Antwortfetzen genügt, um das Thema dieses Spiels zu begreifen: nicht konsequent genug im Abschluss, die Räume vor dem Tor nicht besetzt, der letzte Pass nicht angekommen, Probleme im letzten Drittel.

Das letzte Drittel, das ist ein Code von neumodischen Trainern, denen es zu banal klingen würde, "vorne" zu sagen. Man hätte natürlich auch sagen können: Hinten und in der Mitte waren wir gut, nur vorne hat uns was gefehlt. "Probleme im letzten Drittel" klingt aber viel gelehrter, es klingt wie ein sportwissenschaftlicher Befund, dem man mit sportwissenschaftlich fundiertem Training begegnen kann. "Vorne fehlt was" würde so ratlos klingen, und vor allem könnte dieser Satz genau jene Nachfrage provozieren, die niemand hören will.

Die Nachfrage wäre: Wer oder was fehlt denn genau? Und die Antwort müsste lauten: Marco Reus.

"So wie Marco zuletzt in Form war, hätte er sogar eine Figur dieser WM werden können", sagt Assistenztrainer Hansi Flick. Die DFB-Coaches haben über die Vorrunde eine erste Neun gefunden, im Grunde ist es eine erste Zehn, weil man sich - je nach Gegner und Fitness - entweder Schweinsteiger oder Khedira dazu denken darf. Viele Trainer würden mindestens verrückt vor Glück, wenn sie über eine verlässliche erste Zehn verfügten, aber für die Turnier-Perspektive von Löws Kader ist das fehlende letzte Elftel eine Gefahr. In der Vor- runde hatte Löws Team mal zu viel, mal zu wenig Kontrolle, es wirkte nicht komplett austariert.

Die Elf war noch nicht multitaskingfähig: Spielte sie offensiv, fehlte die defensive Balance. Und umgekehrt. "Ballprogression" sei das "Gebot der Stunde", sagt Chefscout Urs Siegenthaler, er meint einen Mix aus den beiden derzeit gängigen Spielstilen. Er meint einen Ballbesitzfußball, der sich nicht mit Ballbesitz zufrieden gibt, sondern sich dunkel daran erinnert, dass am Ende des Spielfelds ein Tor steht. "Wer im Ballbesitz ist, muss immer eine Idee haben, wie er sich schnell dem Tor nähert", sagt Siegenthaler. Man könnte auch sagen: Wer im Ballbesitz ist, braucht Reus. Und wer kontert, auch.

Es ist kurios, dass Reus noch nie so wichtig war wie jetzt, da er fehlt. Reus war nicht immer die Rettung dieser Elf, er hat mit Özil, Götze und Kroos zu den virtuellen Vier gehört, von denen man nie genau wusste, ob man von ihnen im wahren Leben das bekommt, was ihre Avatare an der Spielkonsole draufhaben. Das mustergültig kontrollierte, aber zu wenig zugespitzte Spiel gegen die USA war aber der letzte Beleg, dass der Reus der letzten Wochen jener Spieler wäre, den diese Elf braucht.

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Er fehlt beim Training und gegen Algerien: Nationalspieler Lukas Podolski laboriert an einer Zerrung im Oberschenkel, die er sich gegen die USA zugezogen hat. Auch Jérôme Boateng trainiert nicht mit, macht Bundestrainer Joachim Löw aber wenig Sorgen.

Joachim Löw hat sein Team für diese WM defensiver komponiert, er leistet sich nur noch drei Spieler, die man bedenkenlos unter "Offensive" rubrizieren darf. Zwei davon stehen fest, das sind Thomas Müller und Mesut Özil, und die dritte Stelle würde idealtypisch an Reus fallen, der - zumindest in seiner Verfassung vor der Verletzung - all jene Qualitäten vereinte, die die Rauner in der Interviewzone vermissten (nicht konsequent genug im Abschluss, die Räume vor dem Tor nicht besetzt, der letzte Pass nicht angekommen . . .).

Ohne Reus muss Löw aber Entscheidungen treffen, die immer schon Vorentscheidungen übers Spiel enthalten: Bringt er Mario Götze, bekommt er einen Ballstreichler, der das Spiel in jeder Sekunde entscheiden kann, aber auch gerne mal den Abwesenheits-Assistenten aktiviert. Bringt er Lukas Podolski, bekommt er einen Dynamiker, der aber Raum braucht und ohne Raum fürs Kombinationsspiel unerheblich ist. Ähnliches gilt für Andre Schürrle, den es anders als Podolski aber immerhin in die torgefährliche Zone zieht.

Und natürlich gibt's da noch den guten, alten Miro Klose, der das Duo Müller/Özil am besten abrunden würde, weil dann nicht die komplette Torgefahr des Teams von den Haxen vom Müller Thomas abhängt. Aber im Trainerstab sind sie nicht sicher, ob Kloses Fitness für einen Startelf-Einsatz reicht. Wenn er beginnt, könnte Löw auf mögliche Spielverläufe nur noch bedingt reagieren, weil zwei Wechsel (Klose und Schweinsteiger oder Khedira raus) im Grunde schon vorher feststehen.

Löw muss Reus durch vier teilen, das ist keine leichte Aufgabe. Gegen Algerien wird sie einfacher: Lukas Podolski fällt wegen einer Oberschenkelzerrung aus.

© SZ vom 30.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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