DFB-Länderspiel gegen Argentinien:Mit skurrilem Gefühl in die neue Zeit

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Mit Miroslav Klose als einzigem Stürmer und weiterhin vielen jungen Akteuren: Bundestrainer Joachim Löw verzichtet im Testspiel gegen Argentinien auf allzu gewagte Experimente in der Nationalelf. Für ein paar Altgediente könnte ein kleiner Umbruch trotzdem das Ende beim DFB bedeuten.

Christof Kneer

Einer der auffälligsten Nationalspieler war zuletzt Tim Wiese. Es wurden jede Menge Bilder von ihm geschossen, Wiese vor Bergkulisse in Österreich, Wiese im Trainingszentrum in Zuzenhausen, Wiese an der Seite von Markus Babbel. Zu diesen Bildern erschienen kleinere Interviews, aus denen hervorgehen sollte, dass Wiese nicht nur äußerlich (Tattoo) mit seinem neuen Trainer mithalten kann, sondern auch innerlich (Mentalität).

Erst hat er gesagt, dass er mit seinem neuen Klub (Hoffenheim) in die Europa League einziehen möchte, auf Nachfrage hat er auf "Champions League" erhöht, und fürs nächste Interview hat er sich vermutlich das Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Tattoo-WM vorgenommen. Es ist immer gut, Ziele zu haben. Ein Ziel aber, das ahnt Tim Wiese spätestens seit diesem Donnerstag, wird er nicht mehr erreichen. Weltmeister wird er nicht mehr, nicht mal auf der Ersatzbank.

Da hat sich Wiese so schön aufgedrängt in der Sommerpause, und auf einmal ist er kein Mitglied der deutschen A-Nationalmannschaft mehr. Die Streichung eines 30-jährigen Reservetorwarts ist aber auch schon die sensationellste Personalie, die Joachim Löw in seinem ersten Aufgebot nach der Europameisterschaft zu bieten hat. Andererseits: Was hat man erwartet?

Es ist eine skurrile Gefühlslage, mit der Löw seine Spieler vor dem Testspiel gegen Argentinien am kommenden Mittwoch um sich versammelt. Wer die aufgeregten Debatten nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien verfolgt hat, hätte auf die Idee kommen können, dass diese von "Versagern" und "Memmen" unterwanderte Nationalmannschaft dringend einen Umbruch braucht. Wer sich dieser Elf aber mit der gebotenen Sachlichkeit nähert statt mit dem Furor enttäuschter Liebe, der wird feststellen, dass es gar nichts zu umbrechen gibt.

Geburtsdaten und Perspektiven von Spielern wie Reus, Götze, Schürrle, Gündogan, Bender oder Draxler befähigen diese Elf mehr denn je zu einer großen Zukunft - vorausgesetzt, der Bundestrainer verzichtet künftig darauf, die Taktik des Italien-Spiels in seinen Kader zu berufen.

Der Blick aufs aktuelle Aufgebot holt noch einmal die bittere Erkenntnis vom Italien-Spiel hervor: Anders als 2008 und 2010 hätte die DFB-Elf dieses Mal das Personal gehabt, um ein entscheidendes Turnierspiel zu gewinnen. Löw weiß, dass er diese öffentliche Erkenntnis so schnell nicht los wird, dass sie ihn begleiten wird auf jenem Weg, der am Ende zur WM nach Brasilien führen soll. Er weiß, dass er dem unterschwelligen Die-gewinnen-eh-nix-wenn's-ernst-wird-Gefühl keine neue Nahrung geben darf, und sei es nur durch eine Niederlage in einem Testspiel im August.

Deutsche Elf in der Einzelkritik
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Thomas Hummel

Löw braucht einen guten Start in die Nach-EM-Ära, er braucht einen Umbruch im Kopf, deshalb hat er, anders als in früheren Jahren, bei der Bestellung seines Aufgebots diesmal wenig Rücksichten genommen. Neben den verletzten bzw. angeschlagenen Mario Gomez und Bastian Schweinsteiger hat Löw nur Philipp Lahm (Geburt des Sohnes steht bevor), Lukas Podolski und Per Mertesacker frei gegeben.

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Gemeinsam mit Arsène Wenger, dem Trainer des FC Arsenal, hat Löw beschlossen, dass es für Podolski und Mertesacker zurzeit Wichtigeres gibt als die Nationalmannschaft: Sie müssen in London erstmal Stammspieler werden. Schaffen sie das, dürften sie dank Löws Treuepunkt-Tabelle demnächst wieder zum Kader gehören; schaffen sie es nicht, ist es nicht ausgeschlossen, dass Löw sie irgendwann zum Gespräch bittet wie zuletzt Tim Wiese.

"Zunächst mal stärker auf die jüngeren Torhüter setzen", "nicht vollends abgeschrieben", "Tür nicht zu" - die Floskeln, die Wiese vorgesetzt bekam, klangen freundlich routiniert, aber Wiese weiß, dass die Tür für ihn ungefähr so offen ist wie für Marcell Jansen oder Clemens Fritz. Oder wie für Cacau: Der Stuttgarter wird die WM in seinem Heimatland höchstens als Tourist buchen können. Er hat nicht mal mehr von Gomez' Verletzung und einer akuten Unterdeckung im Sturm profitieren können.

Der gute, alte Miroslav Klose bleibt einstweilen der einzige Stürmer im Aufgebot, was am Ende noch so etwas wie eine kleine Nachricht abwarf: Miroslav Klose macht also wie erwartet weiter. Der 34-Jährige kann weiterhin in der Gewissheit stürmen, dass in der Bundesliga kaum hochkarätige deutsche Mittelstürmer nachwachsen. Wobei: An diesem Donnerstag hat der in Stuttgart geborene Spanier Joselu, 22, angekündigt, dass er künftig gerne für Deutschland stürmen würde. Joselu ist neu in der Liga, aber es dürfte den Hoffenheimer Neueinkauf weiterbringen, dass er sich im Training ab sofort täglich mit Tim Wiese messen darf.

Das Aufgebot in der Übersicht:

Tor:

Manuel Neuer (FC Bayern), Ron-Robert Zieler (Hannover 96).

Abwehr:

Jérome Boateng, Holger Badstuber (beide FC Bayern), Lars Bender (Bayer Leverkusen), Mats Hummels, Marcel Schmelzer (beide Borussia Dortmund), Benedikt Höwedes (Schalke 04).

Mittelfeld:

Sven Bender, Mario Götze, Ilkay Gündogan, Marco Reus (alle Borussia Dortmund), Julian Draxler (Schalke 04), Sami Khedira, Mesut Özil (beide Real Madrid), Toni Kroos, Thomas Müller (beide FC Bayern), André Schürrle (Bayer Leverkusen).

Angriff:

Miroslav Klose (Lazio Rom).

© SZ vom 10.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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