DFB-Elf:Boateng ist Boss und großer Bruder

Lesezeit: 3 min

Die Wade hält, die Null steht, dann auch noch ein Tor: Jérôme Boateng glückt beim 3:0-Erfolg im Achtelfinale gegen die Slowakei ein wahres Kunststück.

Von Thomas Hummel, Lille

Als Jérôme Boateng abhob, da mussten die deutschen Anhänger kurz um seine Gesundheit fürchten. Hatte nicht die Wade gezwickt im vergangenen Spiel gegen die Nordiren? Angesichts des Landeplatzes, hielt die Sorge allerdings nur kurz an. Boateng flog haargenau in die Richtung von Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, und so viel man weiß, kann der Arzt der Nationalmannschaft so eine Muskelblessur zur Not im Flug erkennen und während eines Torjubels sogleich reparieren.

Die Gäste auf Boatengs Torparty kamen mit ihrer Gesundheit davon. So einen Anlass muss man auch mal feiern dürfen, im 63. Länderspiel hatte der 27-Jährige sein erstes Tor geschossen. Und auch nicht irgendwie hineingestolpert, sondern eines von der Sorte, wie es sich Fußballer in der Nacht vor einem Spiel erträumen. Eckball, Kopfballabwehr, in hohem Bogen flog der Ball aus dem gegnerischen Strafraum heraus, direkt auf Boateng zu. Der hatte lange Zeit sich zu positionieren, und doch gefährden solche Volleyschüsse zumeist die Fans hinter dem Tor. Boateng holte aus - und traf. Zwischen drei Gegenspielern hindurch flitzte der Ball ins linke untere Eck. Dass ein Slowake den großen Zeh noch an die Kugel brachte, änderte nichts mehr.

Das 1:0 nach acht Minuten war der erhoffte, schnelle Türöffner für die Deutschen in Richtung Viertelfinale dieser Europameisterschaft. Hatte sich das Spiel doch genau so entwickelt, wie allgemein erwartet: Die Slowaken standen massiv hinten drin und versuchten, das Spiel so lange wie möglich offen zu halten, um im Laufe des Abends den Favoriten nervös zu machen. Doch Boateng verhinderte diesen Plan.

Braucht keine Kapitänsbinde, um der Chef zu sein

Was zu der Frage führt, was der Kerl eigentlich noch alles tun muss auf dieser Frankreich-Mission. Zuerst hatte er die unselige Nachbardebatte der AfD am Hals, doch den Herrn Gauland ließ er so souverän abprallen wie die meisten Gegenspieler. Schon da war Boateng so etwas wie das Gesicht des deutschen Fußballs. Er hatte schon mehrfach geäußert, dass ihm das Kapitänsamt viel bedeuten würde, gerade als Sohn eines ghanaischen Vaters. Bundestrainer Joachim Löw bevorzugt zwar Manuel Neuer, doch im Turnier wurde schnell klar, dass Boateng keine Binde um den Arm benötigt, um eine bestimmende Persönlichkeit zu sein.

Zum Auftakt gegen die Ukraine verhinderte er ein Gegentor mittels eingesprungenem Rückwärtsflug knapp vor der Torlinie. Als gegen Polen vorne nichts zusammenlief, tadelte er seine Mitspieler wie sich das seit den Aggressive-Leader-Zeiten niemand mehr traute. Die Reaktion des Bundestrainers? Boss Boateng darf das. Der Abwehranker fühlt sich nicht mehr nur für seine Leistung verantwortlich, das hat er längst im Griff. Sondern für das Große und Ganze.

Vermutlich hat seine Anwesenheit auch die Hereinnahme von Joshua Kimmich unterstützt. Joachim Löw schien sich nicht sicher zu sein, ob er einem Jungspund den Druck einer EM zumuten kann. Doch was soll neben Boateng schon passieren? Als Kimmich gegen die Slowaken ein Kopfballduell gegen Juraj Kucka verlor und der den kleinen Deutschen noch ein bisschen einschüchtern wollte, da kam von der Seite sogleich Bruder Boateng und knöpfte sich den Slowaken vor. Willst du ihm Angst einjagen, musst du erst an mir vorbei, sollte das heißen.

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Draxler trickst wie Zidane

Julian Draxler nutzt seine Chance, Jérôme Boateng mutiert zum Schwarzenbeckenbauer. Und auch Thomas Müller trifft - beim Einschießen. Die DFB-Elf in der Einzelkritik.

Von Philipp Selldorf, Lille

Zusammen mit dem seit seiner Genesung ebenfalls großartig spielenden Mats Hummels und Torwart Manuel Neuer bildet Boateng bislang das unüberwindbare Zentrum des deutschen Spiels. Nach vier Spielen hat die Mannschaft immer noch kein Gegentor erhalten, was für die kommenden Runden kein schlechtes Fundament ist. Erst jetzt drohen ja die echten Prüfungen für diese Defensive.

Als es 3:0 stand in Lille, als Schiedsrichter Szymon Marciniak bereits Joshua Kimmich und Mats Hummels gelbe Karten gezeigt hatte, da ahnte man, dass Boatengs Arbeitstag vorzeitig beendet würde. Er war bereits verwarnt ins Spiel gegangen, ein kleiner Zusammenprall, ein blödes Handspiel und es würde eine Sperre fürs das nächste Spiel drohen.

Joachim Löw war schlau genug, diese Gefahr zu bannen, nach 71 Minuten holte er Jérôme Boateng lieber mal vom Platz. Ohne Boateng gegen Italien oder Spanien spielen? Lieber nicht.

© SZ vom 27.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: