Deutsche Nationalmannschaft:Die Hochbegabten greifen an

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Schafft er es zur EM? Schalkes Leroy Sané. (Foto: dpa)

Sané, Kimmich, Brandt und Weigl sind im vorläufigen EM-Kader. Der nächste umfassende Personalwechsel im DFB-Team steht an.

Von Philipp Selldorf, Berlin

Joachim Löw saß mitten im Publikum, als in der französischen Botschaft in Berlin seinen Vorrednern das Wort erteilt wurde. Es sprachen der französische Botschafter Philippe Étienne und der DFB-Präsident Reinhard Grindel, sie beschworen die Freundschaft und die Verständigung der Völker und andere schöne Dinge. Löw schaute ihnen versonnen zu, den Kopf auf die Hand gestützt, er sah aus wie das Foto eines Literaten auf dem Buchdeckel. Vor allem aber machte er einen sehr entspannten Eindruck. Man hätte meinen können, dass er die Unannehmlichkeiten des Tages bereits hinter sich gebracht hatte und darüber recht zufrieden war.

Später berichtete Löw, er habe in der Tat ein paar weniger angenehme Gespräche geführt, als er seine Leute am Dienstagmorgen in einer Art Kommando-Aktion für die in vier Wochen beginnende Europameisterschaft zusammenrief. Es gehört zu den unbequemen Pflichten des Bundestrainers, nicht nur diejenigen zu beglücken, denen er einen Platz im Kader einräumt; er muss auch diejenigen informieren, für die er keine Verwendung finden konnte. Die Namen der Unseligen hat Löw nicht selbst genannt, als er das 27 Köpfe zählende, vorläufige Aufgebot vorstellte. Aber es war klar, wen er meinte, als er sagte, "dass diese Spieler auch riesig enttäuscht sind. Man stößt nicht auf Unverständnis, aber auf große Enttäuschung".

Armer Christoph Kramer

Christoph Kramer dürfte unter den Enttäuschten der Enttäuschteste sein. Vor zwei Jahren stand er noch im WM-Finale, während der Qualifikationsphase gehörte er zur Dauerbesetzung, in Leverkusen war er Stammspieler. Auch Matthias Ginter war in Dortmund als Allzweckabwehrkraft vorübergehend so sehr in Mode, dass seine Nominierung unausweichlich zu sein schien. Was ebenfalls ein Irrtum war. Erik Durm hingegen, noch ein Weltmeister aus Dortmund, dürfte sich schon gedacht haben, dass ihm der Juni für den Urlaub zur Verfügung steht.

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Der Bundestrainer nominiert gleich mehrere Neulinge in das vorläufige EM-Aufgebot. Trotz vieler Probleme und Formdellen sind aber auch alte Fahrensmänner dabei.

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Und Max Kruse dürfte auch nicht allzu überrascht gewesen sein, als er am Rande der China-Reise mit dem VfL Wolfsburg von seiner Nicht-Nominierung erfuhr. Sein Ticket hatte Löw bereits bei der Testspieltour im März eingezogen, als er Kruse im Zuge einer autoritären Anwandlung rigoros von der Einladungsliste strich. Nachdem Löw so unvermittelt ein Exempel statuiert hatte, war es klar, dass er kein Pardon mehr geben würde. Kruse hat er daher eher nicht gemeint, als er den Daheimbleibenden Trost zurief: "Es geht weiter, jeder Spieler bekommt nach dem Turnier die nächste Chance."

Der Kader, den Löw für das Turnier ausgewählt hat, steht im Zeichen einer Bundesligasaison, die dem Nationalteam viele neue Kandidaten beschert hat. Was die Talente angeht, herrschen in Deutschland luxuriöse Verhältnisse. Die neuen Hochbegabten prägen mit ihrer Jugend die DFB-Abordnung für Frankreich und kündigen durch ihre geballte Gegenwart den nächsten umfassenden Personalwechsel an. Der Münchner Joshua Kimmich, der Dortmunder Julian Weigl und der Schalker Leroy Sané haben zunächst mal nicht mehr vorzuweisen als die Erfahrungen ihrer ersten kompletten Erstligasaison.

Aber sie haben in ihren Teams bereits so verantwortungsvolle Posten eingenommen und so maßgebende Bedeutung erlangt, dass man sie nicht mehr mit gewöhnlichen Grünschnäbeln vergleichen darf. Dass einem Julian Brandt mit nunmehr knapp 20 Jahren wie ein alter Bekannter vorkommt, liegt lediglich daran, dass er bereits als 17-Jähriger bei Bayer Leverkusen einen ziemlich ausgereiften Eindruck machte.

Löw hätte noch weitere Verheißungen der vorigen Spielzeit hinzufügen können, doch einstweilen verzichtete er lieber auf den Gladbacher Mahmoud Dahoud, den Leverkusener Jonathan Tah oder den Schalker Leon Goretzka. Noch größere Umwälzungen erschienen ihm womöglich zu gewagt, als Architekt des Kaders hat er auch andere Komponenten zu beachten.

"Neben dem sportlichen Wert ist auch Persönlichkeit wichtig, und der Beitrag, den ein Spieler neben dem Platz leisten kann", sagte er. Es ginge "um mehr, als gut Fußball zu spielen, es geht darum, eine Einheit zu bilden, ein bedingungsloses Miteinander". Der Satz, den er auf diesem Gedankenbau zum neuen Leitmotiv entwickelt hat, lautet: "Das Kollektiv ist wichtiger als jeder einzelne Spieler."

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:"Neben dem sportlichen Wert ist Persönlichkeit wichtig"

Joachim Löw begründet seine Nominierung, Manuel Neuer äußert sich zur Berufung von Joshua Kimmich. Die Stimmen im Überblick.

Darüber hinaus hat Löw recht, wenn er sich gegen die Nachrede vom Talente-Luxus verwahrt, denn es gibt weiterhin Positionen, da herrscht trotz der florierenden Nachwuchsarbeit immer noch eine Art Monokultur. Als Mittelstürmer steht nach wie vor derselbe Mario Gomez im Aufgebot, der sich dafür beim Aufruf für 2014 nicht mehr hatte qualifizieren können. Jonas Hector aus Köln besitzt als Linksverteidiger Alleinvertretungsanspruch. Einen akademisch ausgebildeten Rechtsverteidiger sucht man vergebens, hier müssen angelernte Aushilfen wie Sebastian Rudy, Emre Can oder Antonio Rüdiger einspringen.

Noch ein Abstieg für Ron-Robert Zieler

Die größten Überraschungen in der EM-Auswahl muss nicht Löw verantworten, sondern sein Fachreferent Andreas Köpke. Er bestimmte Bernd Leno und Marc-André ter Stegen zu den Stellvertretern von Manuel Neuer. Die Qualitätskriterien werden beide erfüllen, nur die gegenseitige Verträglichkeit steht bei den beiden ehrgeizigen Männern in Frage. Ron-Robert Zieler, bisher eine treue Nummer drei im Nationalteam, musste nach dem Niedergang mit Hannover 96 einen weiteren Abstieg verkraften.

Noch ist es ein vorläufiger EM-Kader, vier der 27 Spieler, die Löw präsentierte, werden nicht mit nach Frankreich reisen dürfen. Der Bundestrainer hob mit Blick auf das nächste Woche beginnende Trainingslager hervor: "Es gibt keinen potenziellen Streichkandidaten. Ich will in diesen ersten Wochen einen Konkurrenzkampf sehen, in dem sich die Spieler um den Platz im endgültigen Kader bemühen."

© SZ vom 18.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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