Ob es nun Kalkül war oder mangelnde Geschmeidigkeit im Umgang mit hellhörigen Medien: Die Nachricht erstaunt jedenfalls seit Donnerstag die Öffentlichkeit. Das schwierige Nachdenken, von dem Mats Hummels seit Wochen redet, hat offenbar wenig mit Barcelona oder London, mit Mailand oder Madrid zu tun, sondern in der Hauptsache mit Bayern München. Ein Wechsel des Dortmunder Kapitäns zurück zu seinem Jugendverein FC Bayern: Für Dortmund, für seine Mannschaft und noch mehr für die Fans wäre das wohl der größte denkbare Affront.
Mats Hummels weiß das alles. Das ist es ja gerade. Borussia Dortmunds einziger echter Weltmeister ist seit achteinhalb Jahren beim BVB, er war 19, als er von den Bayern zuerst ausgeliehen wurde und ein Jahr später ganz wechselte. Weder Ottmar Hitzfeld noch Jürgen Klinsmann konnten in München viel mit Hummels anfangen, der alle Jugendteams bei den Bayern durchlaufen hatte.
Der mögliche Wechsel des BVB-Verteidigers nach München bereitet Trainer Tuchel "keinen Stress". Die Fans hingegen machen mobil. Der FC Bayern blockt ab.
In seiner ersten Saison hat Dortmund das Pokalfinale 2008 erreicht, genau wie jetzt. Der Gegner damals: natürlich die Bayern, die nach Verlängerung 2:1 gewannen. Hummels durfte damals, unter BVB-Trainer Thomas Doll, nicht mitmachen. Er war noch ein Nobody. Borussia Dortmund stand auf Platz 13 der Liga und war froh, die Insolvenz abgewendet zu haben.
Dann kam die Klopp-Ära und Hummels stieg mit Dortmund zum internationalen Superhelden auf. Inklusive Champions-League-Finale 2013. Hummels ist das Gesicht von Dortmund, noch mehr als Marco Reus. Das alles mit der Krönung 2014: Mehr als Weltmeister kann man im Fußball nicht werden. Die zwei deutschen Bundesliga-Titel und das Double 2012 mit Borussia Dortmund taten ein übriges.
Vor knapp zwei Jahren, wenige Wochen nach dem WM-Triumph von Rio, sagte Hummels in einem Interview: "Es kommt nicht nur darauf an, Titel zu gewinnen. Es kommt auch darauf an, wunderbaren Fußball zu spielen, zusammen mit Freunden erfolgreich zu sein. Und außerdem: Mit unserer Mannschaft können wir alles gewinnen."
Dieser Glaube scheint Hummels irgendwann in den letzten 20 Monaten abhanden gekommen zu sein. Obwohl Dortmunds neuer Stil unter Trainer Thomas Tuchel international gerade wieder als Avantgarde abgefeiert wird, ist die zentrale Figur des Ganzen offenbar in eine Midlife-Crisis als Fußballer gerutscht. Mit 27 Jahren hört Hummels offenbar seine biologische Uhr ticken. 2016 spielt die Anzahl gewonnener Pokale eine wichtigere Rolle im Leben, als er das vor ein, zwei Jahren glaubte.
Die größte Titelgarantie hat man als deutscher Fußballer in München. Beim FC Bayern haben schon Spieler deutsche Meisterschaften und sogar Europapokale gewonnen, an die sich schon ein, zwei Saisons später nur noch Statistik-Liebhaber erinnern (u.a. Ali Daei, Michael Wiesinger oder aktuell wohl: Serdar Tasci).
Bisher sind es nur Gerüchte, aber jetzt spricht auch der Vater von Mats Hummels über einen Transfer seines Sohnes. Der FC Bayern ist eine Option.
Aber wenn man an die persönlichen Hollywood-Sterne will, dann ist das in München machbarer als irgendwo sonst. Was aber Hummels noch mehr Kopfzerbrechen machen dürfte: Seine Eltern stammen zwar aus Hamm, 35 Kilometer von Dortmund entfernt, aber er selbst ist durch und durch in München sozialisiert.
In Dortmund weiß man schon lange, dass er, auch nach all den Jahren beim BVB, jede freie Minute nach München düst. Dort soll er sich zum Freizeit-Kick mit den Kumpels seiner Jugend treffen, dort sind seine Eltern und die seiner Frau Cathy. Und seine Frau selbst, so registrieren Beobachter, soll mehr Zeit in München wohnen als an Dortmunds Phoenixsee, wo das Ehepaar Hummels offiziell lebt.
Wer nach so langer Zeit noch keine Wurzeln an seinem Arbeitsplatz geschlagen hat, den treiben eine Menge Dinge zurück in die Heimat, wo es obendrein von Trophäen nur so wimmelt. Von Barcelona oder der Premier League, so hört man, ist bei Hummels gar nicht die Rede. Es soll nur um die eine Frage gehen: Dortmund oder München.
Man kann sich, angesichts dieser mentalen Indizienkette, eigentlich nur fragen, worüber Hummels eigentlich noch nachdenkt. Aber interessanterweise liegt Dortmund bei einigen handfesten Faktoren durchaus besser, als bei den weichen Standortfaktoren. Hummels darf man seine lange eingeübte Verbundenheit zum "Projekt Dortmund" und seinen Kumpels in der Mannschaft abnehmen. Spieler wie Reus, Schmelzer, Bender, Sahin oder Subotic sind ihm mehr ans Herz gewachsen, als im Profifußball üblich.
Hummels will zudem eine Führungsfigur sein. Das ist er in Dortmund - während er in Ensembles wie dem der Bayern immer nur einer unter Vielen sein kann. Vergessen ist auch nicht, dass man ihn in München seinerzeit partout nicht wollte. Und Jahre später, als er die Avancen der Bayern für eine Rückkehr ausschlug, setzten die Münchner seinen Vater Hermann Hummels an die Luft. Scheinbar als Retourkutsche. Hummels Senior war bei den Bayern jahrelang als Nachwuchs-Koordinator angestellt und fungiert - offiziell zumindest - auch als Berater seines Sohnes.
Für den BVB spricht auch, dass Thomas Tuchel als der derzeit heißeste Trainer der jüngeren Generation gilt, Carlo Ancelotti dagegen in München wohl eher als Übergangs- und Abfederungsmodell nach der Ära Guardiola zu verstehen ist. In Insider-Kreisen gilt der Stil von Tuchel als das nächste große Ding, als frische Mischung aus Klopp- und Guardiola-Fußball.
Verlässt der Nationalspieler den BVB? Vielleicht sogar Richtung München? Nichts scheint mehr ausgeschlossen. Dortmund beschäftigt sich schon mit einem Nachfolger.
Dortmund holt außerdem mit Ousmane Dembélé (18, bei Stade Rennes) höchstwahrscheinlich das größte französische Talent der neuen Generation für die neue Champions-League-Saison und rechnet sich scheinbar gute Chancen aus, im Sommer Mario Götze aquirieren zu können, was für Hummels ein besonders wichtiges Argument zu sein scheint. Dem steht nur der wahrscheinliche Verlust von Ilkay Gündogan entgegen, dessen Standing in der BVB-Mannschaft aber weniger groß ist. Nicht umsonst haben Kagawa, Castro und Weigl ihm bei Tuchel den Rang abgelaufen.
Über all diese Argumente findet Hummels, nach eigener Beschreibung, derzeit nicht in den Schlaf. "Wir verdienen genug hier in Dortmund" hat Hummels im besagten Interview kurz nach dem WM-Titel gesagt. Am Geld wird es nicht liegen, wenn Hummels sich entscheidet. Eher daran, ob er sich für eine Rückkehr zu seinen Wurzeln entscheidet oder dafür, weiter die schwierige Verantwortung für das Gegenprojekt in Dortmund zu tragen. Entscheiden wird das am Ende wohl der Bauch des Weltmeisters.