Champions League:Atléticos Mission heißt Exorzismus

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Besessen? Fernando Torres und Atlético Madrid wollen gegen den FC Bayern eine alte Rechnung begleichen. (Foto: REUTERS)
  • Atlético Madrid, das ist eine Geschichte des Scheiterns und der Tränen. Der größte Schmerz hat mit dem FC Bayern zu tun.
  • Im Champions-League-Halbfinale will Trainer Diego Simeone die bösen Geister vertreiben.
  • Hier geht es zu den Ergebnissen der Champions-League-Saison.

Von Javier Cáceres

Das Estadio Vicente Calderón von Atlético Madrid verströmt einen spröden, morbiden Charme. Wer sich durch seine Katakomben bewegt hat, versichert, dass einen das Fürchten befällt.

Ehe das Spiel beginnt, dröhnt aus der Atlético-Kabine rituell ein infernales Gebrüll, das von den Wänden zurückgestoßen wird, ein einschüchterndes Echo hervorruft und bei manchem neuen Profi tellergroße Augen der Angst provoziert haben soll. So jedenfalls versichern es Menschen, die Zugang zur Kabine Atléticos hatten. Wie nur sollen es jene empfinden, die zum ersten Mal dort gastieren? So wie an diesem Mittwoch die Belegschaft des FC Bayern, die dort das Halbfinal-Hinspiel der Champions League austrägt?

Der Mann, der dafür verantwortlich ist, dass im Calderón, am Ufer des Manzanares, dieser neue, hypnotisch-infernale Sound eingezogen ist, heißt Diego Pablo Simeone. Seit Dezember 2011 ist der 45-Jährige dort als Trainer tätig, er hat seither das Selbstverständnis des Klubs umfassend erneuert. "Diesen Klub würde nicht mal seine verdammte Mutter wiedererkennen", sagt José Miguélez, der Autor eines Buches namens "Sentimiento Atlético", in etwa: "Das Atlético-Gefühl".

Seit er am Samstag wohl einen Balljungen anstiftete, einen zweiten Ball ins Spiel zu werfen, um im Spiel gegen Málaga einen gegnerischen Angriff zu stören, steht Simeone in Spanien unter Beschuss. Nicht aber unter den 45 000, die im Calderón ihre Heimat haben. Dass auf dem Rasen der Zweck die Mittel heiligt - dagegen haben sie wenig einzuwenden.

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Jeder Ball, eine Schlacht. Jede Partie, ein Existenzkampf. Schützengraben-Fußball

Simeones Atlético ist der Gegenpol zum Ballbesitzfußball, quasi der vornehmste Repräsentant archaischer Elemente. "Intensität" ist eine dieser Phrasen des modernen Fußballwortschatzes, deren Sinn nicht immer erklärbar ist - bei Atlético erkennt man ihren Sinn. Atlético ist eine Elf, die aus dem Schützengraben heraus operiert. Jeder Ball eine Schlacht. Jede Partie ein Existenzkampf. "Partido a partido", von Spiel zu Spiel, lautet das Credo Simeones.

Es kommt nicht von ungefähr, dass die größten Idole der Anhänger nicht die Artisten sind, nicht der Franzose Antoine Griezmann oder Koke, den sogar der Ästhet Pep Guardiola mal verpflichten wollte, wie es in Spanien heißt. Sondern jene, die auch mit blutunterlaufenen Augen weiterspielen wie der Uruguayer Diego Godín (der für das Hinspiel verletzt ausfällt). Heute bildet Innenverteidiger Godín zusammen mit Rechtsverteidiger Juanfran und Mittelfeldspieler Gabi das emotionale Herz eines Vereins, der bis zur Ankunft des Argentiniers Simeone auf einer so unendlichen wie hoffnungslosen Reise nach Ithaka war.

Atlético, das war der Sisyphos des spanischen Fußballs, dem vom Gipfel immer wieder der mühsam hochgeschleppte Ball herunterrollte, so lange, bis Zehntausende Atlético-Fans ihre Hingabe als unheilbare Sucht empfanden, als sinnlos toxische und doch unüberwindbare Liebe. "Papa, warum sind wir Atlético-Fans?", fragte vor ein paar Jahren in einem Werbefilm des Klubs ein Bub seinen Vater im Auto, und die Antwort war: Schweigen. Langes, undurchdringliches Schweigen.

Und es stimmt ja auch. Atléticos Geschichte schien vor Simeone eine Geschichte menschlicher wie sportlicher Tragödien zu sein. Atlético ist der einzige unter den sogenannten "historischen" Klubs Spaniens, der in die zweite Liga abgestiegen ist. Dem FC Barcelona, Real Madrid und Athletic Bilbao widerfuhr das nie. Zwei Mal musste Atlético hinab, zwei Mal waren Elfmeter im Spiel, mit denen sich der Klub gerettet hätte, die Atlético aber verschoss.

Menschliche Tragödien? Oh ja: Bei einer Tour durch Marokko wurde ein Spieler Atléticos, Fernando Vigueras Rodríguez, von Zivilpolizisten erschlagen. Das war 1933. Gut dreißig Jahre später fiel auf einer Südamerikareise ein Spieler namens José Miguel Martínez ins Koma und wachte nie wieder auf, er starb 1972. Doch kein Drama lastete auf der Atlético-Seele so sehr wie der Abend, als Hans-Georg Schwarzenbeck, Verteidiger beim FC Bayern, im Europapokal-Finale der Landesmeister 1974 Atlético aus dem Himmel riss.

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Von Javier Cáceres

Luis Aragonés, Spaniens späterer Nationaltrainer, hatte Atlético in der Verlängerung in Führung gebracht; dann sorgte Schwarzenbeck in der 120. Minute für den Ausgleich, "die überflüssigsten 30 Sekunden meines Lebens", wie der inzwischen verstorbene Aragonés klagte. Es gab ein Wiederholungsspiel - Elfmeterschießen war noch nicht eingeführt -, Bayern siegte mit 4:0. Allein mit den Legenden, die sich um Schwarzenbecks Tor ranken und die nun, im Vorfeld der Halbfinalspiele, wieder hervorgekramt werden, ließen sich ganze Bücher füllen.

Eine kreist um Manuel Reina, den Vater des späteren Bayern-Torwarts Pepe Reina, von dem es hieß, er sei abgelenkt gewesen, weil ihm hinterm Tor ein Fotograf ein Souvenir abschwatzen wollte. Das Trikot, die Schuhe, irgendwas. Reina bestreitet es bis heute. Oder die Geschichte vom "innombrable", dem "nicht zu nennenden" Redakteur einer Sportzeitung, der in seiner Redaktion als Seuchenvogel galt, seit er einem Fotografen auf einer Flugreise sagte, er solle die Jungs mit den Trainingsanzügen fürs Archiv fotografieren, weil er meinte, es sei die algerische Handballnationalmannschaft.

Waren sie aber nicht, wie sich nach der Landung in Rom herausstellte: Die Jungs zogen Schießeisen aus ihren Sporttaschen und gaben sich als Kommando der palästinensischen Terrorgruppe "Schwarzer September" zu erkennen. "El innombrable" also war auch in Brüssel, 1974, beim Finale, und just bevor Schwarzenbeck ausholte, war er auf der Pressetribüne zu Max Merkel gelaufen, mit dem er auf einen Sieg Atléticos gewettet hatte. "Max!!! Maaaxx!! Rück' die Kohle raus!!!!" Dann traf Schwarzenbeck. Aus gefühlt 200 Metern. Gegen einen Torwart, der im ganzen Wettbewerb zuvor nicht einen einzigen Gegentreffer hatte hinnehmen müssen.

"Wir haben danach zwei Nächte lang nicht geschlafen, die Bayern hatten mit ihrer Euphorie im Wiederholungsspiel ein leichtes Spiel", sagt José Eulogio Gárate, damals Stürmer, der sich Zeit seines Lebens mindestens so viele Vorwürfe anhören musste wie Reina: Er hatte den letzten Angriff der Bayern nicht unterbunden, weil er Wadenkrämpfe bekam. "Man warf mir vor, ich hätte mich hingeworfen. Dabei konnte ich mich nicht mehr bewegen." Auf der Ehrentribüne stand der Präsident Vicente Calderón, nach dem das Stadion heute benannt ist, auch an ihm soll der "innombrable" vorbeigelaufen sein, mit den Worten: "Das war's, Presi, das war's!!!" - "Wir sind halt der 'Pupas' ", stöhnte Calderón, als Schwarzenbeck zugeschlagen hatte. "Pupa", das ist das lautmalerische Wort, das in Spanien Schmerz bedeutet: Aua.

Schon seit jenen Abenden heißt es unter Atlético-Fans, die europäische Königsklasse schulde ihnen einen Henkeltopf. 2014 wurde das Gefühl noch größer: Sergio Ramos glich im Champions-League-Finale in der 90. Minute aus, erzwang die Verlängerung - und letztlich den Sieg von Real Madrid. Wenn man Spaniens Finanzminister Luis de Guindos, der in Business-Schulen gelehrt hat, aber die VIP-Tribüne meidet, weil man da nicht so viszeral sein kann wie die anderen 45 000 Zuschauer, weil man da an sich halten muss - wenn man De Guindos also fragt, was schlimmer gewesen sei, Schwarzenbeck oder Ramos, schaut er an einem vorbei und sagt langsam und überlegt: "Die Freude über den nahenden Champions-League-Sieg wird den Frust kompensieren." Sie glauben tatsächlich dran.

Im Viertelfinale wurde nun der FC Barcelona niedergerungen, auch Real Madrid wurde in Spanien zuletzt mehrmals besiegt, vor allem Letzteres hat die Hoffnung genährt, dass sich Geschichte umkehren lässt. Der "antimadridismo" ist ja die Triebfeder Atléticos. Immer schon gewesen. "Sogar die Gründung Atléticos ist ohne den 'antimadridismo' undenkbar", sagt der "atleticólogo" Miguélez.

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Die Rivalität zu Real Madrid ist allgegenwärtig: im Kabinett, am Strand, im Hurenhaus

Bei einem Spiel zwischen Real und Athletic Bilbao, in den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts, waren neutrale Zuschauer über die Arroganz der "madridistas" erbost - und gründeten aus Protest einen Konkurrenzverein mit den Farben von Athletic. Seither definiert sich Atlético über die Rivalität zu einem Klub, der gleich zehn "Copas de Europa" in seinen Vitrinen stehen hat, und dessen Anhänger keine Gelegenheit auslassen, den Atlético-Sympathisanten die Silberware um die Ohren zu hauen. In jedem denkbaren Kontext des gesellschaftlichen Lebens: in der Bar und im Regierungskabinett, auf dem Bau und in den Universitäten, unterm Weihnachtsbaum, am Strand, in Kirchen oder in Hurenhäusern, vorm Fernseher im eigenen Wohnzimmer. "Mauro, warum wirst du nicht besser Real-Fan? Noch ist Zeit . . . ", ließ die Schriftstellerin Almudena Grandés vor ein paar Jahren in einer Kurzgeschichte eine Mutter fragen. "Wie kannst du mir so etwas sagen?", antwortete der Sohn, tränenüberströmt.

Es sind solche Tränen, die der Trainer Simeone getrocknet hat, man könnte meinen, auf immer. Der Mann, der das demagogische Coaching zur Kunstform erhoben hat, der sich mitunter intensiver darum kümmert, das Publikum im Calderón anzustacheln, als die Figuren auf dem Rasen zu verschieben, hat dem Leid einen Sinn gegeben. Er gewann die Europa League, einen spanischen Pokal (gegen Real Madrid!), die spanische Meisterschaft und den spanischen Supercup.

Jedes Mal zogen die Atlético-Fans in die Madrider Innenstadt und feierten rund um den Brunnen, der dem Gott der fließenden Gewässer gewidmet ist, Neptun. Und wer weiß, womöglich würden sie dort wieder hinströmen, wenn Atlético die Bayern schlagen sollte, wenn die Erinnerung an Schwarzenbeck getilgt werden sollte, der Exorzismus vollbracht wäre. Es würde die Atlético-Fans darin bestärken, Neptun zu danken, für eine unendliche Odyssee der Emotionen, die immer seltener von Trauer und immer häufiger von Stolz geprägt ist.

© SZ vom 26.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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