Bundestrainer Löw vor dem WM-Finale:Unbedingtheit im Trommeltropenregen

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Ein Foto, das ikonographischen Charakter bekommen könnte: Joachim Löw trocknet sich beim Spiel gegen die USA. (Foto: Andreas Gebert/dpa)

Bundestrainer Joachim Löw steckt tiefer im Tunnel als je zuvor - er will unbedingt den WM-Titel. Auf dem Weg zum Erfolg hat er von erstaunlich vielen Ideen und Idealen Abschied genommen. Diesen Pragmatismus hat ihm kaum jemand mehr zugetraut.

Von Christof Kneer, Santo André

Vor einem Jahr hat Urs Siegenthaler sein Handy in die Hand genommen, es ist noch eines dieser Handys, mit denen man telefonieren kann. Das Handy macht keine Musik, es lädt keine Staumeldungen oder Pollenflugvorhersagen herunter, und es ist sogar zweifelhaft, ob man damit WhatsApp-Gruppen bilden kann. Mit Siegenthalers Handy kann man heute kein Schulkind mehr zur Schule schicken, es sei denn, man will riskieren, dass das Kind verspottet und ausgeschlossen wird. Urs Siegenthalers Telefon ist einfach nur ein Telefon, es kann telefonieren und Meldungen senden, sonst kann es nichts. Aber mit diesem Telefon fing alles an.

Im Juni 2013 war Urs Siegenthaler als Abgesandter des Deutschen Fußball-Bundes beim Confederation Cup, dem kleinen WM-Testturnier in Brasilien, und dort hat er also irgendwann sein Handy genommen, er stellte den SMS-Modus ein und tippte: "Wir sind aufgefordert, mit der Zeit zu gehen und die Idee zur Seite zu legen." Empfänger der Nachricht war ein Mann in Freiburg/Deutschland: Joachim Löw.

Wenn (also: falls) die deutsche Nationalmannschaft am Sonntag Fußball-Weltmeister wird, dann werden die Leute hinterher etwas haben wollen, was bleibt. Die Glücksinterviews werden irgendwann versendet, die Jubelbilder irgendwann archiviert sein, und auch den Pokal wird der Deutsche Fußball-Bund nicht im neuen Fußballmuseum in Dortmund ausstellen können. Der Pokal ist größer als der, der ihn gewinnt, man darf ihn nicht behalten. Es gibt nur ein Duplikat.

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Wenn (falls) die deutsche Nationalmannschaft also Weltmeister wird in Rio, wird man vielleicht doch Urs Siegenthaler fragen müssen. Ob er diese SMS archiviert hat? Man könnte sie vielleicht irgendwie ausdrucken, und den Ausdruck könnte man ins Haus der Deutschen Geschichte in Bonn hängen, gleich neben den berühmten Elfmeter-Zettel von Jens Lehmann.

In Urs Siegenthalers Handy steckt alles, was man wissen muss über die deutsche Nationalmannschaft und ihren Trainer Joachim Löw. Der Schweizer Siegenthaler, 65, ist seit zehn Jahren Chefscout der Nationalmannschaft, sein Job ist es, für Joachim Löw die nächsten Gegner auszukundschaften und Trends zu formulieren, am besten noch bevor der Trend zum Trend geworden ist. Aber für Löw ist er viel mehr als das: Er ist Vertrauter und Guru.

Wenn der Trainer Joachim Löw bei diesem Turnier anders wahrgenommen wird als bei früheren Turnieren, dann hat das eine Menge mit Siegenthaler und der SMS aus dem kleinen, grauen Handy zu tun. Mit der Zeit gehen und die Idee zur Seite legen: Nichts anderes tut Löw in Brasilien.

Wer die SMS kennt, der kann plötzlich all jene Bilder verstehen, die von diesem Turnier am anderen Ende der Welt in die Heimat übertragen wurden. Es sind schwer entschlüsselbare Bilder von einer deutschen Mannschaft, die beinahe gegen Algerien ausscheidet und eine Woche später Brasilien demoliert. Es sind Bilder einer Mannschaft, die nicht so aussieht und auch nicht immer so Fußball spielt, wie man das von einer künstlerisch veranlagten Löw-Mannschaft erwartet.

Was man sieht: eine Abwehr, die ein paar Spiele lang aus vier Innenverteidigern besteht; eine Elf, die sich nur noch drei wirklich offensive Spieler leistet; Tore, die ständig nach Ecken und Freistößen fallen, einer zünftigen Basisdisziplin des Fußballs, die Löw viele Jahre freundlich verachtete. Löw hat seine Idee vom Fußball vorübergehend zur Seite gelegt, er hat sie angepasst an ein Turnier, vor dem er wegen der Bedingungen (Südamerika! Hitze! Reisestress!) großen Respekt hatte. Ohne Kenntnis der SMS bleiben diese Bilder als Rätsel stehen, denn Löw erklärt sie nicht.

Joachim Löw, 54, ist der deutsche Bundestrainer, man weiß das, es steht bei Wikipedia und auf der DFB-Homepage, und man erkennt ihn auch am Spielfeldrand, wenn seine Mannschaft Fußball spielt. Aber ansonsten gab es noch nie so wenig belastbare Beweise für Löws Existenz wie bei dieser WM. Wer Beweise suchte, musste morgens zwischen sechs und sieben an den Strand vorm Teamquartier kommen, dort sah man regelmäßig einen Mann mit großer Sonnenbrille joggen. Es waren Lebendbilder eines Mannes, der sich rar macht wie die späte Marlene Dietrich. Zweimal kam Löw im DFB-Quartier zur Pressekonferenz, zweimal in knapp fünf Wochen. Vor vier Jahren, bei der WM in Südafrika, kam er jede Woche zwei-, dreimal.

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Er gibt der Mannschaft einen Schubser, lenkt die Verteidiger ab und schießt Tore: Für André Schürrle läuft die WM optimal - auch wenn er bei Joachim Löw nur Einwechselspieler ist. Im Finale könnte die Mannschaft den 23-Jährigen nun mehr brauchen denn je.

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Der Löw, der sich selbst geheim hält, und der Löw, der die Ideen zur Seite legt: Man kann sie nicht trennen. Sie sind ein und dieselbe Person.

Joachim Löw ist hoch konzentriert, er stecke tiefer im Tunnel als je zuvor, sagen seine Vertrauten, er will am Sonntag unbedingt diesen Titel gewinnen. Aber Löws Unbedingtheit ist eine andere als die, die man von anderen Trainern kennt. Löw ist kein Verrückter, er ist nicht besessen, niemals würde er wie José Mourinho den Finger ins Auge eines feindlichen Assistenztrainers bohren. Löw hat es gerne schön, er ist mehr so der Kaffeehaus-Typ, es müsste allerdings schon ein schickeres Kaffeehaus sein, keines mit Holzbank und Kachelofen. Aber die letzten beiden Jahre - und das ist die Botschaft der rätselhaften Bilder bei dieser WM - haben Löw aus dem Kaffeehaus vertrieben. Löw kämpft. Er kämpft um diesen Titel, den es da am Sonntag zu holen gibt - aber vor allem kämpft er um die Deutungshoheit der Ära Löw.

Das prägendste Bild, das die WM bisher von diesem Trainer geliefert hat, war ein Bild aus dem dritten Vorrundenspiel. Deutschland spielt gegen die USA, Joachim Löw spielt gegen Jürgen Klinsmann, von oben trommelt der Tropenregen. Klinsmann, der Fighter, wirft sich irgendwann eine Regenjacke über und zieht eine Mütze über das, was in besten Zeiten mal eine blonde Mähne war. Und Joachim Löw, der Beau? Er steht da draußen im Trommeltropenregen, weit außerhalb seines Kaffeehauses, und er hat keine Zeit für den Schirm, den ihm eine helfende Hand reichen will. Löw wird nass. Er sieht aus wie Bryan Ferry, den es beim Open-Air-Concert vollschifft.

Wenn (falls) dieser Löw jetzt Weltmeister wird, wird dies das Bild des Turniers gewesen sein: Löw, der angebliche Schönwettertrainer, mitten im Tropenregen.

Ein Trainer, der sich selbst geheim hält und ein Trainer, der die Ideen zur Seite legt: Wenn Deutschland Weltmeister wird, ist dies die Geschichte des Turniers. Es ist die Geschichte eines Trainers, den sein Land jahrelang als lässigen Erneuerer feierte, bevor es fast übergangslos vom Glauben abfiel. Von der zweiten Hälfte des Jahres 2012 hat sich Löw lange nicht erholt: von jenem etwas blasiert vercoachten 1:2 gegen Italien im EM-Halbfinale, als Löw sich über die Gesetze der Branche erhob und eine funktionierende Mannschaft auseinandernahm; er hat damals plötzlich eine andere, schwer verkopfte Aufstellung gewählt, es war eine Aufstellung, die nicht die Anderen, sondern die Eigenen überforderte.

Ein paar Monate später servierte Löw seiner wachsenden Kritikerschar als Dessert in Berlin noch jenes spektakuläre 4:4 gegen Schweden, nach 4:0-Führung; wieder wirkte er wie ein Trainer, der seine sehr zu lobende Fußballidee nur für eine ideale Welt konzipiert hat, und der es gar nicht merkt, wenn die Idee in der wirklichen Welt mal nicht funktioniert.

Aus diesen unglücklichen 2012er- Tagen stammt das Bild, das sich die Leute von Löw und seiner Elf gemacht haben: Wenn es ernst wird, gewinnen die nix. Das sind doch alles Schönspieler, die werden doch weggeschwemmt vom ersten Tropenregen. Das Jahr 2012 hatte die Macht, die Dinge neu zu definieren: Nun war Löw nicht mehr der Coach, der seine Elf mit imposanter Konstanz in alle Halbfinals oder Finals führte, die es gab; er war jetzt der Coach, der diese Spiele immer verliert. Er war der Konzepttrainer, dem das gewisse Etwas fehlt; das bisschen Bauch, das bisschen Schmutz, das es braucht, um in der freien Wildbahn zu bestehen.

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Noch hat Löw dieses WM-Finale zu spielen, natürlich könnte man jetzt sagen: Das ist immer noch genügend Zeit, um in alte Muster zurückzufallen, um plötzlich wieder mit der idealen Welt anzukommen, die dann an der wirklichen Welt zerschellt. Aber nach dem bisherigen Turnierverlauf täte man Löw schweres Unrecht, würde man ihn nur an den folgenden 90 oder 120 Minuten messen. Löw hat dieses Turnier bisher mit einem Pragmatismus durchgecoacht, den ihm kaum einer zugetraut hat. Er war nie larmoyant, er hat nie geklagt, dass ihm Spieler wie Reus, Gündogan, Gomez oder Badstuber fehlen, er hat einen immer noch luxuriösen, aber doch lückenhaften Kader unspektakulär befestigt. Er hat die Patienten Schweinsteiger und Khedira seriös gestärkt und übers Turnier in Form gebracht, und bei der Debatte um die Rolle des Kapitäns Philipp Lahm hat er auch ein paar maßgebliche Spieler um ihren Diskussionsbeitrag gebeten. Solche semidemokratischen Prozesse habe es bei diesem Turnier häufiger gegeben als früher, sagt einer, der immer dabei ist.

Natürlich kennt Löw die Mechanismen: Im Erfolgsfall wird er für seine offene Unternehmenskultur gelobt, im Misserfolgsfall gilt er als Umfaller, der seine Entscheidungen der Volksmeinung anpasst. Aber Löw hat beschlossen, dass ihm die Mechanismen so wurscht sind wie noch nie. Er hat sich auch deshalb so rar gemacht, weil er sich seit zwei Jahren über die Maßen kritisiert fühlt. Er kann das schon auch: seine Kritiker mit Nicht-Erscheinen strafen.

So hat er es auch geschafft, dass alle weiter rätseln: Wird er seinen bis 2016 laufenden Vertrag erfüllen, wie die Mehrheit seiner Begleiter glaubt - oder tritt er nach dem Finale trotzig zurück? Ein Freund sagt, "der Jogi" sei "zuletzt ein bisschen zu oft angeschossen worden".

© SZ vom 12.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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