Anekdoten zu WM-Duellen gegen Argentinien:Sehnsucht nach "Don Bratwurst"

Fußball-WM 1986 in Mexiko: Finale Deutschland - Argentinien Briegel Schumacher

Und dann war der Ball drin: Hans-Peter Briegel kann das 2:3 gegen Argentinien im WM-Finale 1986 nicht mehr verhindern.

(Foto: ag.dpa)

1986, 1990, 2006 und 2010 traf die DFB-Elf zuletzt bei Weltmeisterschaften auf Argentinien. Erinnerungen an die "Walz aus der Pfalz", grimmige Gauchos und an ein benebeltes WM-Viertelfinale im Krankenhaus. Gesammelt von der SZ.de-Redaktion.

Es genügt, bei diesem Bild einzig das Gesicht von Hans-Peter Briegel zu betrachten - um genau zu wissen, was da gerade passiert. Diese Ein-Mann-Büffelherde, die sie alle nur die "Walz aus Pfalz" nannten, weil sie bei der WM 1986 die rechte Spielfeldseite mehr bepflügte als bespielte. Die wird nun fotografiert: weit aufgerissener Mund, zusammen gekniffene Augen - so sehen nur Menschen aus, die gerade etwas Schreckliches sehen und wissen, dass sie es nicht mehr verhindern können. Es ist der Augenblick, in dem Entsetzen und Traurigkeit aufeinandertreffen.

Auf dem Foto sind noch der am Boden liegende Toni Schumacher zu sehen, der argentinische Fußballer Jorge Burruchaga - und ein Ball, der sich auf diesem Bild natürlich nicht bewegt. Und doch weiß jeder, der diese Momentaufnahme betrachtet, dass dieses Spielgerät ins Tor kullern wird. Zum 3:2 für Argentinien. Im WM-Finale. In der 84. Minute. Und es genügt, das Gesicht von Briegel zu kennen, um zu wissen, was in diesem Moment jeder deutsche Fußballfan fühlt.

(Jürgen Schmieder, USA-Korrespondent)

1986 war ich 14 und auf dem Höhepunkt der Pubertät. Die WM bot mexikanische Fiesta, faszinierende Stadien und die Geburtstunde der La-Ola-Welle. Lothar Matthäus schoss Deutschland gegen Marokko mit einem grandiosen Freistoß ins Viertelfinale. Anschließend warf die DFB-Elf Mexiko aus dem Turnier. Das Halbfinale gegen Frankreich muss ich wohl verpasst haben. Meine Erinnerung setzt im Finale wieder ein: Es geht gegen Argentinien, ich sitze alleine vor dem Fernseher, meine Mutter interessiert sich nicht für Fußball und lässt mich in diesen schicksalhaften 90 Minuten allein: Maradona schwebt über diesem Spiel.

Er hat auf dem Weg ins Endspiel seine Hand und seine Zauberfüße (bei seinem Solo über den halben Platz) zur Hilfe genommen. Argentinien gilt als Favorit. Das bestätigt sich just: Nach einer Stunde führen die Gauchos mit 2:0. Doch dann ziehen sich die Argentinier zurück -und wir packen unsere Kämpfermentalität aus.

Nach zwei ins Tor gestocherten Eckbällen schaffen Rummenigge und Völler den Ausgleich. Das Drama nimmt seinen Lauf, Deutschland will es noch vor dem Ende der regulären Spielzeit entscheiden und läuft in der 84. Minute in einen argentinischen Konter. Pass Maradona, Solo von Burruchaga - 3:2. Das Spiel ist aus, ich heule Rotz und Wasser und bin am Boden.

(Daniel Hofer, Bildreaktion)

Der trockenste Reporter der Geschichte

1986 gab es noch kein Public Viewing. Weder Fahnen an Autos noch Schminke im Gesicht. Wenn Fußball überhaupt im Fernsehen kam, wurde es zu Hause geschaut im Wohnzimmer. Auch ein WM-Finale. Vater und Sohn. Mutter machte vermutlich das Abendessen oder unterhielt sich mit der Nachbarin. Schwester hatte was Besseres zu tun. 1986 war das Verhältnis zu deutschen Fußballern sehr gespalten. Auf dem Schulhof wollte keiner Eder, Jakobs, Briegel, Förster, Magath oder gar Dieter Hoeneß sein. Die Bayern-Fans, okay, die waren vielleicht Rummenigge oder Matthäus. Aber auch nicht alle. Alle wollten dafür Diego sein.

Diego Armando Maradona. Allein der Name klang nach Fußballgott. Und wie der spielte. Göttlich wäre eine schamlose Untertreibung gewesen. Irgendwann ist einem die deutsche Mannschaft dennoch nahe gekommen. Der Bub ist Deutscher, da spielen Deutsche, was soll man machen. Aber das Finale: Deutschland - Maradona. Es blieb eine gespaltene Angelegenheit. Argentinien führte bald 2:0, die Sache schien gelaufen. Doch die Deutschen kamen nochmal, es war mitreißend. Wer dabei war, wird niemals den TV-Kommentar von Rolf Kramer vergessen. Im normalen Leben der trockenste Reporter der Menschheitsgeschichte, packte es auch ihn.

2:2 durch Rudi Völler: "Tooor! Ist denn das die Möglichkeit. Und jetzt steh ich auf", schrie er. Draußen im Hof brüllten die Väter am Balkon. Sie kamen kaum auf das Sofa zurück, da war alles schon wieder vorbei. Burruchaga (auch dieser Name hat sich eingebrannt) lief auf das deutsche Tor zu, auf den damals besten Torwart der Welt, auf Harald "Toni" Schumacher. Kramer flehte: "Toni, halt den Ball ... Nein." Der Ball war drin. Deutschland hatte verloren. Bald hielt Diego den Pokal in Händen. Es fühlte sich richtig an.

(Thomas Hummel, Sport-Ressort)

Am 8. Juli 1990 saß ich mit meinen Eltern vor dem Fernseher und beneidete die ältere Schwester, die mit Freunden noch in Italien war und sogar ein deutsches Vorrundenspiel in Mailand gesehen hatte. Doch das heimische Wohnzimmer hatte auch einen entscheidenden Vorteil. Als Andi Brehme in der 85. Minute den Ball auf den Elfmeterpunkt legte, konnte ich es fluchtartig verlassen. Wie schaffte er es, ruhig bleiben? Das Schicksal von Millionen Fans lastete doch auf ihm. Wenn er nur den Pfosten trifft? Oder Goycochea hält?

Ok, Brehme hat ins Tor getroffen, links unten. Haben mir dann meine Eltern erzählt, als ich mich Minuten später wieder vor den Fernseher traute. Zum Schlusspfiff saß ich auf der Couch und entspannte beim Anblick von Beckenbauers Spaziergang über den römischen Rasen. Ebenjenen Rasen habe ich einen Monat später live erlebt. Ministrantenwallfahrt. Nach Beten am Paulusgrab, Knochen gucken in den Callixtus-Katakomben und Kreuzgangwandeln in der Lateranbasilika haben wir unserem Kaplan einen Besuch im Stadio Olimpico abgetrotzt. Dort wehte noch Beckenbauers Geist und Andi Brehme schoss noch einmal für mich. Seit dem muss ich bei Elfmetern nur noch selten wegschauen.

(Mirjam Hauck, Digital-Ressort)

Der Held des 1990er Finales? Andi Brehme, irgendwie. Lothar Matthäus, eher nicht. Ganz sicher aber ein krausköpfiger Schwabe, lattendürr und international bis zum Anpfiff nahezu unbekannt: Guido Buchwald. Da saß man also als Teil der Fernsehnation vor dem nahezu rechteckigen Klotz, der sich damals TV-Endgerät nannte und staunte in schwarz-weiß über diesen Typen, der Maradona an sich abprallen ließ wie ein kleines, dickliches Kind, das immer und immer wieder gegen eine Gummiwand rennt. Wo immer der kleine Argentinier mit der genialischen Veranlagung hinwollte, Buchwald war schon da. Wollte Maradona den Ball erhaschen, war Buchwalds lange Hackse schneller.

Buchwald hat einmal berichtet, wie Maradona während jener 90 Minuten auf dem Rasen hockte, nach einem verlorenen Zweikampf, all sein Englisch zusammenklaubte und fragte: "You again?" Bis zum Ende der Nachspielzeit verdarb Buchwald seinem Gegner die Freude am schönen Spiel - noch ehe er den WM-Pokal in die Luft recken konnte, war der Spitzname "Diego" geboren. Diego Buchwald. Wer sich in einem Anflug von Nostalgie im Internet ein Trikot von 1990 ersteigern möchte, sollte darauf achten, dass es nur eine Rückennummer gibt, die den Geist von 1990 wirklich leben lässt: die Sechs, die des einzig wahren Diego.

(Carsten Eberts, Sport-Ressort)

Lauter Vorstadtvisagen bei den Gauchos

Zwei Semester Barcelona, sowas kann einen schon mal in die Bredouille bringen. In Deutschland grassierte 2006 ein Virus namens "Sommermärchen", in Katalonien interessierten sich dagegen nur versprengte Ausländer-Enklaven für die WM. "Catalunya is not Spain" stand an der Uni an der Wand, außerdem war "Spain" bereits im Achtelfinale ausgeschieden. Fußballfieber? No, gràcies. Wer trotzdem das Viertelfinale Deutschland gegen Argentinien verfolgen wollte, musste entweder zu "Don Bratwurst" (eine Bierkneipe in den Bergen) pilgern oder in eine südamerikanische Bar. Dort angekommen, entpuppte sich das eigene Antlitz als Problem. Ein Bleichgesicht aus Alemania, was hat der hier verloren?

Auf Plastikstühlen fand sich ein grimmiger Gaucho-Mob ein, das passte zur Mannschaft der Argentinier: Sorin, Riquelme, Tevez, wie sie alle hießen - Typen mit verwegenen Mähnen und Vorstadtvisagen. Es ging ins Elfmeterschießen, alles schwitzte und die Mojitos taten ihr übriges. Als es vorbei war, nahm auf dem Platz eine Prügelei ihren Lauf. Die Meute in der Kneipe fauchte Wörter durch die Luft, die von mittelguter Kinderstube zeugten. Der Schiedsrichter, die eigenen Elferschützen, der Trainer, der einen 18-Jährigen namens Lionel Messi auf der Bank ließ - sie alle sollten sich in die Pampa verziehen. Und ich am besten gleich mit, carajo! Es war Zeit zu gehen. Wäre ich nur zu "Don Bratwurst" gefahren.

(Jonas Beckenkamp, Sport-Ressort)

In einer Beziehung ist man durchaus bereit, Kompromisse zu machen. Eine Runde Shopping in der Münchner Innenstadt mit der Liebsten am Tag des WM-Viertelfinals 2006 könnte so ein Kompromiss sein. Wobei von besagter Dame ein rechtzeitiges Shoppingende zugesagt wurde - nur noch schnell hier hin und dort hin, ist klar. Womit nicht zu rechnen war: Eine plötzliche Schlägerei am gegenüberliegenden Bürgersteig. Als die Polizei anrückt, ist eine Zeugen-Aussage fällig. Man kann ja nicht einfach wegrennen.

Aus eigener Erfahrung kann ich heute sagen: Es dauert seine Zeit, bis um die zwei Dutzend Beobachter und ihre Personalien im Protokoll vermerkt sind. Das Spiel zwischen Deutschland und Argentinien ließ sich trotz der misslichen Lage nicht verschieben - Rettung lieferte der Fernseher eines Imbissladens direkt neben dem Tatort. Und als Jens Lehmanns Spickzettel das Weiterkommen gesichert hatte, konnten schließlich auch die Herren Polizisten wieder abziehen.

(Matthias Kohlmaier, Medien-Ressort)

Die Ärzte hatten alles gegeben. Nachdem sie den Morgen des 30. Juni 2006 damit verbracht hatten, im Krankenhaus an meinem Zeh herumzuschnippeln, konnten die Chirurgen am Abend bei einem Bier ein wenig Sommermärchen träumen. Alles gegeben hatte auch der Narkosearzt: Kurz vor Anpfiff des WM-Viertelfinals gegen Argentinien erwachte ich im Zimmer, als sich die Tür öffnete. Meine Mutter kam mit Obst, Lesestoff und vielen Fragen. Fußball ist nicht so ihr Ding, sie interessierte mein Zustand. Doch das Gespräch war schwierig. Die Narkose. Klinsmanns Jungs auf dem Bildschirm. Alles gut, sagte ich matt. Keine Schmerzen.

Die Augen fielen zu. Meine Mutter verstand und verabschiedete sich. Nun also: Volle Konzentration auf das Spiel. Schweinsteiger, Klose und Ballack rannten übers Spielfeld, aber je länger sie rannten, desto konturloser wurden sie. Irgendwann schwirrten nur noch dunkelblaue und weiße Punkte wild durcheinander. Meine Augenlider wurden schwer, mein Kopf knickte auf die Seite. In der Ferne hörte ich so etwas wie Torjubel, aber das kann ich auch geträumt haben. Kein Traum war gegen Mitternacht der Blick in den Videotext. Deutschland im Halbfinale. Vor dem Fenster die Fans, erschöpft vom Feiern, auf dem Weg ins Bett. Und ich: plötzlich hellwach.

(Tobias Dorfer, SEO-Redakteur)

Ein Fußballsong dank Maradona

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Da kannte auch Maradona diesen Thomas Müller: Der Münchner erzielt im WM-Viertelfinale 2010 das 1:0 gegen Argentinien.

(Foto: AFP)

Da setzt sich dieser junge Bursche einfach neben Diego Maradona auf die Bühne. Ohne sich vorzustellen! Die "Hand Gottes" fuchtelt mit den Armen, zetert los, verlässt die Bühne. Im März 2010 ist das. Zur Erinnerung: Thomas Müller hat gerade ein Spiel vor Maradonas Augen absolviert. Aber egal, bei der Pressekonferenz erkennt Argentiniens Trainer den Neuling nicht. Am nächsten Tag sitzen zwei junge Münchner Burschen im Westpark, nennen wir sie Erwin und Schorsch. Sie trinken Weißbier, was nie verkehrt ist, wenn man einen Fußballsong dichten will. Sie frotzeln herum, machen Witze über die Müller-Epsiode, trinken noch mehr Weißbier, ehe sie merken, dass sich manche Sachen reimen - und schreiben einen Song.

Der Text enthält eine ordentliche Portion schlechte Kinderstube, genügt also allen Regeln des Schmähgesangs. Sie schnappen sich noch einen weiteren Kumpel, der im Video Maradona spielen darf - ausgestattet mit Perücke und Puderzucker (wegen der Sache mit dem Koks, hihihoho). Der Spezl spielt seine Rolle vorzüglich, ebenso wie Erwin und Schorsch, die lederbehost um ihn herumtanzen und ihm ins Ohr brüllen: "Der Junge heißt Mühüüüller, Mühüüüüller... Herr Diego, der Junge heißt Müller.." Und am Ende des Videos taucht einer auf, der aussieht wie Thomas Müller. Den jungen Mann haben die beiden Jungs auf dem Weg zum Videodreh noch schnell aufgegabelt, ihm ein Trikot übergezogen und einen Ball in die Hand gedrückt. Der Müller-Doppelgänger kann sogar ganz gut Fußball spielen. Ein irrer Zufall ist das. Und eine wunderbare Abschlussszene. Und jetzt alle: "Der Junge heißt Mühüller, Mühüller ..."

(Kathrin Haimerl, Politik-Ressort)

Viele Menschen lieben Diego Armando Maradona, manche benennen ihre Söhne nach ihm. Ich hingegen halte Maradona für ein kindisches, undiszipliniertes Großmaul, dessen Ruhm vor allem auf einem Handspiel und einem erfolgreichen Solo basiert, 1986 gegen England. Handspiele sind im Fußball verboten und das Solo ist nicht mehr einzigartig, seit Lionel Messi es 2007 beinahe deckungsgleich nachmachte.

Ich habe mich geärgert, als Maradona im März 2010 den deutschen Nationalspieler Thomas Müller für einen Balljungen hielt und sich weigerte, neben ihm auf der Pressekonferenz Platz zu nehmen. Und ich habe mich riesig gefreut, als Müller vier Monate später das 1:0 erzielte, im WM-Viertelfinale, gegen Argentinien. Drei weitere Tore folgten damals, Maradona war traurig - und seinen Job los. Gut so. Sollte er auch nach dem WM-Finale 2014 trauern: mir wäre es recht.

(Michael König, Politik-Ressort)

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