Bundesliga:Stuttgart ist morsch und mürbe

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So sieht es aus, wenn ein Traditionsklub leidet: Der Spieler Kevin Großkreutz wird sicherheitshalber von Ordnern in Gewahrsam genommen. (Foto: pixathlon / Rudel)
  • Zum ersten Mal seit 1975 droht dem VfB Stuttgart nach dem 1:3 gegen Mainz wieder der Absturz in die zweite Liga.
  • Nur mit einem Sieg in Wolfsburg kann der VfB noch auf den Relegationsplatz springen.
  • Doch die Spieler wirken sichtlich müde vom jahrelangen Abstiegskampf.
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Von Christof Kneer, Stuttgart

Der einzige Mann, der den VfB Stuttgart jetzt noch trösten kann, sitzt in der Pressekonferenz nach dem Spiel immerhin in der ersten Reihe. Jürgen Sundermann verpasst bis heute kein Spiel seines VfB, und nach den Spielen geht er immer in den Presseraum, er redet mit Reportern, die er von früher kennt, und manchmal umarmt er den gegnerischen Trainer. Das mit dem Umarmen ist allerdings weniger geworden, seit die Liga auf diese neumodischen Trainer setzt, die gerade geboren wurden, als er, der Sundermann Wundermann, seine beste Zeit hatte.

Sundermann, 76, verkörpert etwas, was der VfB Stuttgart wohl bald wieder brauchen wird: die Hoffnung, dass die zweite Liga nicht das Ende bedeutet. Dass dort aus Schmerz und Trotz wieder etwas wachsen kann, wie damals, 1976/77, als der VfB mit dem berühmten Hundert-Tore-Sturm um Ottmar Hitzfeld und mit selbst angebauten Talenten wie Hansi Müller und Karl-Heinz Förster wieder in die erste Liga zurückkehrte und dort gleich Vierter wurde.

Seitdem ist Jürgen Sundermann aus Mülheim an der Ruhr ein Ehrenschwabe, dem sie es sogar durchgehen lassen, dass er nach 40 Jahren immer noch kein einziges Wort Schwäbisch beherrscht. "Eine Katastrophe is' dat", murmelte Sundermann, als er nach dem 1:3 gegen Mainz 05 aus dem Presseraum ins Freie trat, nur wenige Meter entfernt vom Stadiontor 5, wo einige Dutzend empörter Anhänger immer noch draußen vor dem Zaun standen und die Spieler beschimpften, die auf der anderen Seite des Zauns mit gesenkten Köpfen ihre Strafpredigt empfingen. Womöglich haben manche Spieler erst in diesem Moment wirklich begriffen, was sie in dieser fremden Stadt da angerichtet haben.

"Wegen euch steigen wir ab", rief ein Fan, und das war doch eine recht bündige Zusammenfassung jener schleichenden gegenseitigen Entfremdung, die ein Teil des modernen Fußballs geworden ist. Zwar wird es aller Voraussicht nach und gemäß des gültigen DFL-Regelwerks schon die Mannschaft sein, die nächstes Wochenende Deutschlands oberste Spielklasse räumen muss, aber den Anhängern kommt das nicht so vor.

Der nächste Traditionsverein

Sie sehen es so, dass sie der VfB sind, es ist ihr Herz, das jetzt blutet, und es ist ihr Auto, mit dem sie demnächst zu Derbys nach Karlsruhe und sogar Heidenheim fahren müssen. Naturgemäß ist das Leben der Menschen jenseits des Zauns viel existenzieller vom VfB abhängig als das Leben des Verteidigers Toni Sunjic, der zuvor in Krasnodar war, oder das Leben des spektakulären Filip Kostic, der eher nicht nach Heidenheim fährt. Sondern in eine schöne Arena, mit einem Klub aus Rom, London oder Gelsenkirchen.

Gefühlsduseleien des Spieltags
:Die Tränen des Rüpels

Kevin Großkreutz zeigt seine sensible Seite. Bei Sandro Wagner gehen die Gefühle auf andere Weise mit ihm durch. Die Gefühlsduseleien des Spieltags.

Was es bedeutet, ein Traditionsverein zu sein, versteht man immer dann besonders gut, wenn ein Traditionsverein absteigt. Vor acht Jahren musste der damalige Nürnberger Trainer Thomas von Heesen erhebliche Mengen Kaffee trinken, er war ein Gefangener im klubeigenen Presseraum, weil von draußen Steine gegen das Fenster flogen. Vor fünf Jahren marschierten grimmig aufgerüstete Uniformierte im Innenraum der Frankfurter Arena auf, um die Verantwortlichen zu schützen, und vor vier Jahren hüllten aufgebrachte Anhänger das Stadion in Köln so sehr in schwarzen Nebel, dass es aussah wie das Abschlusstraining vor der Apokalypse.

In Stuttgart ist der Abstieg noch nicht amtlich, ein Sieg in Wolfsburg könnte dem VfB im Falle einer gleichzeitigen Bremer Niederlage noch die Flucht auf einen Relegationsplatz ermöglichen - wer das Spiel gegen Mainz verfolgt hatte, musste aber schon Teil eins dieser Konstellation für gewagt halten, und so setzten sich nach dem Schlusspfiff Hunderte von Anhängern in Bewegung und fluteten den Rasen, wo sie je nach Charakter, Temperament und Intellekt tätig wurden.

Einige Vermummte rempelten in sich in Richtung der Spieler durch, andere schüttelten ziellos Fäuste, wieder andere waren einfach nur Teil einer aufgewühlten Masse, die vor dem von Ordnern abgeriegelten Kabinengang zum Stehen kam. Christian Gentner, seit Jahren tapferer Kapitän wechselnder Krisenformationen, kletterte auf einen Tisch und versuchte den Leuten zu erklären, was keiner erklären kann: wie es sein kann, dass eine Elf mit so vielen begabten Offensivspielern zu Beginn der Rückrunde alles gewinnt, um auf einmal alles zu verlieren.

Nach 41 Jahren dürfte es für Stuttgart also erst mal wieder hinunter gehen in die zweite Liga, eine historische Dimension, die natürlich nach Antworten verlangt. Die spontane Antwort der brüllenden Menschen auf dem Rasen war laut und nicht misszuverstehen: "Vorstand raus!", riefen sie, und: "Außer Kevin könnt ihr alle gehen" - Letzteres darf als besonders irre Pointe gelten, denn neben Jürgen Sundermann aus Mülheim an der Ruhr hat es nun auch Kevin Großkreutz in wenigen Monaten zum Schwaben h.c. gebracht; ein Spieler, der die Dortmunder Skyline als Tattoo auf seiner rechten Wade mit sich führt.

"Ich kann die Fans verstehen, wir sind verantwortlich. Ich bin sprachlos", stammelte Großkreutz mit tränennassen Augen.

Die Figur Großkreutz zeigt, wie irrational dieses Spiel sein kann. Er werde dem VfB auch bei Abstieg die Treue halten, hatte er vor dem Spiel den sozialen Netzwerken anvertraut, und allein mit diesem Satz war es ihm gelungen, für die Fans zum besten Mann auf dem Platz zu werden; fachlich betrachtet war er eher das Gegenteil. Sein frühes Comeback nach einem Muskelbündelriss war von allen Beteiligten gut gemeint, allerdings hatten nicht nur die Fans ihre Freude an der Rückkehr des Rechtsverteidigers, sondern auch die Spieler auf der linken Seite von Mainz 05.

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Bei den ersten beiden Gegentoren (37., 53.) wirkte Großkreutz so mühselig und beladen, als trüge er Dortmunds Skyline nicht auf der Wade, sondern auf dem Rücken.

Eine Saison weitgehend ohne Trainer

Tatsächlich hat es Großkreutz damit bereits zum stellvertretenden VfB-Profi geschafft: Viele Spieler wirken inzwischen morsch und mürbe, sie haben sich aufgezehrt und aufgebraucht in den jahrelangen Anstrengungen gegen den Abstieg, immer wieder mussten sie Aufholjagden starten und Schicksale bezwingen, und irgendwann ist der Geist müde von den vielen, immer neuen Parolen. In der vorigen Saison ist der VfB noch lustvoll aus dem Keller gestürmt, aber in dieser Saison reicht die mentale Energie offenbar nicht mehr für ganze Spiele - zumal auch noch die Widerstandskämpfer im Team zuletzt krank oder verletzt waren.

Gegen Mainz hat nicht mal mehr der stimmungsvolle Beginn mit dem frühen Tor durch Gentner (6.) ausgereicht, um die Immunkräfte zu stärken - am Ende stand dieselbe Diagnose wie beim 2:6 in Bremen: multiples Organversagen. Verzweifelt und völlig vereinzelt betrieben die Spieler spätestens nach dem 1:2 ihren Sport, allein gelassen auch vom Trainer Jürgen Kramny, der dem Verfall zusah, zu lange an seiner Taktik ohne Stürmer festhielt und keine Idee gegen die absurden Abwehrschwächen entwickelte.

Vielleicht kann man von einem Team, das eine Saison weitgehend ohne Trainer spielt, auch keinen Klassenerhalt verlangen. Dem deutlich zu radikalen Alexander Zorniger folgte der bemühte, aber wenig variantenreiche Kramny, eine Konstellation, die natürlich Fragen an den Sportchef Robin Dutt aufwirft, in dessen Ressort Trainer- und Kaderplanung fallen. Ob der Aufsichtsrat seinen Vorständen einen möglichen Abstieg verzeiht, weiß noch keiner beim VfB, sicher ist nur eines: Es wird wieder mal ein turbulenter Sommer.

© SZ vom 09.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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