Brasilien bei der Fußball-WM:Viel zu hohe Rechnung für ein rauschendes Fest

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Fußball-Party - doch was ist, wenn die WM vorbei ist? Szene aus der Favela Algomerado da Serra (Foto: AFP)

Brasilien hat die WM in scheinbar großer Leichtigkeit bewältigt. Doch nach einem Monat Ausnahmezustand fragen sich fast 200 Millionen Brasilianer: Was hat uns dieses Turnier eigentlich gebracht? Die Probleme des Landes sind nicht gelöst - und die Ball-Hypnose vergeht.

Ein Kommentar von Peter Burghardt

Immer wieder ist es verblüffend, was der Fußball aus einem Land und der Welt machen kann. Vor dieser Weltmeisterschaft in Brasilien war hauptsächlich von Protesten die Rede gewesen, von korrupten Funktionären sowie unfertigen, teuren und überflüssigen Stadien. Die Brasilianer schienen keine rechte Lust auf das größtmögliche Sportfest zu haben. Nicht um diesen Preis. Dann ging es los, im südamerikanischen Winter 2014 begann ein rauschendes Fest.

Brasilien trug Gelb-Grün, die Farben der Nationalelf. Die leuchtenden Trikots wurden zu einem Symbol von Lebensfreude und Leichtigkeit. Angefeuert von Siegen, Politikern und dem Medienkonzern Globo, wuchs statt des Zorns der Patriotismus. Die Bilder von Tränen und Triumphen verwoben sich wie in einer Telenovela. Die Umfragewerte der anfangs ausgebuhten Präsidentin Dilma Rousseff stiegen. Bis die Seleção, die brasilianische Auswahl, im Halbfinale 1:7 gegen die Deutschen unterging. Das Debakel war noch größer als bei der WM 1950 - die legendäre Niederlage im alten Maracanã-Stadion gegen Uruguay. Die Blamage illustrierte, dass auch Brasiliens Fußball eine Renovierung braucht. Das jogo bonito, das schöne Spiel, zeigte das Team von Jogi Bonito, dem Bundestrainer Löw.

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Das Weltturnier steuert seinem Ende entgegen und der Gastgeber muss zuschauen. Arroganz und Überheblichkeit - das sind die Gründe für die furchtbare Niederlage gegen Deutschland. Die Bevölkerung war nicht auf das vorbereitet, was für alle Sportarten gilt: Einer gewinnt, und einer verliert.

Eine Außenansicht von Leonardo Boff

Einheimische nehmen die Blamage zwar mit einer angenehmen Mischung aus Ärger, Trauer und Humor. Doch das Finale im neuen Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro bestreiten Deutschland und Argentinien, begleitet von ihren himmelblau-weißen und weißen oder rot-schwarzen Fans. Bereits vor dem Abpfiff nach einem Monat Ausnahmezustand fragen sich fast 200 Millionen Brasilianer: Was hat uns diese WM eigentlich gebracht?

Euphorie verdrängt Probleme

Einerseits: Das Turnier wirkte wie ein verlängerter Karneval. Die Brasilianer bestätigten ihren Ruf, dass sie gut und gerne feiern können, obwohl das Klischee selbst manchen Einheimischen auf die Nerven geht. Brasilianer sind in der Regel umwerfend freundlich, ihre Gäste waren begeistert. Tudo bem, alles gut. Daumen hoch.

Selbst die Organisation hat funktioniert, vom befürchteten Chaos auf Terminals und Tribünen kaum eine Spur. Das beweist, wozu Lateinamerikas Gigant fähig ist. Die Lust an der Improvisation hilft zuweilen mehr als die Sucht nach Perfektion. Dieses urbrasilianische Talent, genannt jeitinho, zur Überwindung von Engpässen würde manchem Nordländer hervorragend stehen.

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1986, 1990, 2006 und 2010 traf die DFB-Elf zuletzt bei Weltmeisterschaften auf Argentinien. Erinnerungen an die "Walz aus der Pfalz", grimmige Gauchos und an ein benebeltes WM-Viertelfinale im Krankenhaus. Gesammelt von der SZ.de-Redaktion.

Dazu kommt die Schönheit der Landschaften und vieler Spielorte, eine unbezahlbare Werbung. Fußball mit Bier und Kokosnuss am Strand macht nun mal den meisten Sportfreunden Spaß. Und wer jemals von Rios Flughafen Santos Dumont unter dem Zuckerhut abgehoben oder an der Bucht gelandet ist (und das Abwasser ignorierte), der muss diese Stadt lieben. Sogar das gewaltige São Paulo beeindruckte als faszinierende Metropole. Diese Mischung macht Brasilien zu einem Sehnsuchtsort, zum sympathischen Aufsteiger der Weltwirtschaft. Die WM in Russland 2018 und vor allem Katar 2022 dürften vergleichsweise schlecht abschneiden, sofern die Wüstenposse in acht Jahren tatsächlich stattfindet.

Andererseits wachten ganze Bataillone von Polizisten und Soldaten über das Spektakel. Der martialische Auftritt der Uniformierten und die umfangreiche Überwachung erstickten kleinere Demonstrationen im Keim. Das erinnerte an die WM 1978 in Argentinien, als die Armee herrschte - und auch folterte. Brasília und der Fußballweltverband Fifa schaukelten sich bei den Kontrollen hoch. Ohnehin hatten Brasiliens Regierung und das Parlament unter dem vormaligen Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva fast alles abgesegnet, was diese trübe Fifa verlangte. Eine selbstbewusste und souveräne Demokratie darf sich solche Knebelverträge aber nicht gefallen lassen.

Brasiliens Sicherheitsapparat ist ein Erbe der Diktatur, die 29 Jahre zurückliegt. Kaum irgendwo schießt die Polizei schneller, bevorzugt auf junge, arme und dunkelhäutige Männer in den Armenvierteln. Die gelten dann im Zweifel als Drogenhändler oder einfach nur als verdächtig. Hier hat das System seine größte Schwachstelle, auch sind zu viele Waffen im Umlauf. Brasilien wird nicht Fußballweltmeister - aber es ist Mordweltmeister. 56 337 Menschen wurden 2012 in dem Land umgebracht.

Nur war ein erschossenes Kind dem Publikum in diesen Wochen weniger wichtig als der gebrochene Lendenwirbel des Fußballhelden Neymar. Gleichzeitig sah man auf den schicken Rängen vornehmlich hellhäutige Zuschauer sitzen, dabei ist die Mehrheit der Brasilianer farbig. In den Arenen war die WM ein Vergnügen von Mittelschicht, Elite und Ausländern, der Rest konnte sich die Tickets nicht leisten. Das mag auch in Südafrika 2010 so gewesen sein, doch Brasiliens Fußball ist ein Volkssport, dem so die Seele geraubt wird. Ein Beispiel: Das nun renovierte Estádio do Maracanã war bis zu seinem kostspieligen Umbau ein billiger Treffpunkt gewesen. Oder die simple Frage: Wie viele Bewohner aus dem Peripherieviertel Itaquera im Osten von São Paulo schaffen es heute noch in ihr Stadion Itaquerão?

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Von Thomas Hummel

Die Rechnung für dieses Fußballfest bezahlt ganz Brasilien. Die zwölf WM-Stadien wurden nicht privat finanziert, wie zunächst versprochen, sondern über staatliche Kreditinstitute. Das große Geschäft machten Baufirmen wie Odebrecht, die Korruption wuchert wie gehabt. Nach der WM werden die Arenen in Brasília, Manaus, Cuiabá und Natal kaum mehr gebraucht, weil es dort keine hochklassigen Profiklubs gibt. Für wenige Partien wurde ein Vermögen verpulvert.

Wegen überhöhter Fahrpreise sowie der oft miserablen öffentlichen Schulen und Krankenhäuser waren Demonstranten vor einem Jahr zu Hunderttausenden auf die Straßen gegangen. Während der hochklassigen Spiele wich die Wut der Begeisterung, doch sie ist keineswegs verschwunden. Die Empörung über Kleptomanen und Staus kann sich jederzeit wieder Bahn brechen.

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Der nächste sportliche Streitfall steht für 2016 an: Olympia in Rio, getragen von ähnlichen Ausgaben, Umsiedlungen und der Geheimloge Internationales Olympisches Komitee. Vorher wird in diesem Oktober gewählt. Dilma Rousseff aus der linken Arbeiterpartei PT bewirbt sich um eine zweite Amtszeit und wird voraussichtlich gewinnen, die Sozialprogramme sichern ihr noch immer eine große Unterstützung. Ein brasilianischer Erfolg im Maracanã hätte Rousseff weiteren Schwung gegeben. Doch Brasiliens Präsidentin muss am Sonntag erst einmal wieder Pfiffe befürchten und einem Fremden den WM-Pokal überreichen: Philipp Lahm oder Lionel Messi.

© SZ vom 12.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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