Biathlet Erik Lesser:Mit Silber gegen den Medaillenspiegel

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Erste Medaille für das deutsche Biathlon-Team: Erik Lesser beim 20-Kilometer-Rennen. (Foto: dpa)

"Kann man den nicht verbieten?" Erik Lesser erlöst zuerst das deutsche Biathlon-Team mit seinem überraschenden Lauf zu Platz zwei im 20-Kilometer-Rennen. Um anschließend zu erklären, dass den Athleten die Plakettenzählerei mächtig auf die Nerven gehe.

Von Volker Kreisl, Krasnaja Poljana

Es passte zu diesem Rennen, dass Erik Lessers letzter Anfeuerer auf der Schlussrunde beim 20-Kilometer-Einzelrennen Gerald Hönig war. Hönig ist Biathlon-Bundestrainer für die Frauen, er stand da auf seinem Posten und schrie nach Kräften, um die letzte Reserven Lessers zu mobilisieren. Denn nicht nur Lesser, nicht nur die Männer, auch die Frauen, die Techniker, die Betreuer, alle aus dieser Abteilung würden von einem Erfolg des jungen Oberhofers nun profitieren.

"Jetzt nicht nachlassen!", etwas in der Art schrie also Hönig, und Lesser ließ auch nach knapp 20 Kilometern nicht nach, er lief hinein ins Stadion, dann noch eine letzte Schleife, vorbei am Publikum, durch die Spitzkehre, wieder vorbei am Publikum, über die Ziellinie, und fiel, auf die Knie, auf die Brust. Dann drehte er sich zur Seite, und man sah seinen Brustkorb, der auf und nieder ging wie ein Blasebalg.

Die Silbermedaille hatte er geholt, mitten hinein in die gerade anschwellenden Abgesänge aufs deutsche Biathlon. Man hatte mit Simon Schempp gerechnet bei diesem längsten Einzelrennen des Biathlons, Schempp ist in passabler Form. Oder auch mit Andreas Birnbacher, der nach schleppender Vorbereitung und manchen Infekten vielleicht überraschen konnte. Doch eigentlich hatte man nach den mäßigen Schieß- und Laufleistungen in Sprint und Verfolgungsrennen mit niemandem mehr ganz weit vorne gerechnet. Auch nicht mit Erik Lesser.

Und dann ist der 25-Jährige weit über das Ziel hinaus geschossen. Er war eigentlich angetreten, um wenigstens Fünfzehnter zu werden und somit noch am Massenstart teilnehmen zu dürfen, dem Wettbewerb, in dem er als Fünfter der WM 2013 in Nove Mesto sein bis dato bestes Ergebnis abgeliefert hatte. Nun saß er da als Zweiter, verhältnismäßig knapp nur bezwungen von Martin Fourcade, der sein zweites Gold bei diesen Spielen geholt hatte, und deutlich vor dem russischen Bronzegewinner Jewgeni Garanitschew, der dem heiseren Heimpublikum und seinem ehrgeizigen Verband dieselbe Erleichterung brachte wie Lesser seinen Landsleuten. Als er zu seiner ersten Medaillenbesprechung Platz nahm, hatte er längst wieder Luft, um zu antworten, blieb aber so locker, als ginge es um Platz zwei beim Püttlinger City-Biathlon. Seine unausgesprochene Botschaft war: Bitte nicht alles so wichtig nehmen!

20 Treffer bei 20 Schuss - wie er das plötzlich geschafft habe? "Im letzten Schießen hatt' ich wackelige Knie, dann hab' ich mir aber gedacht, Waffe absetzen machen nur Mädchen, und hab' durchgeschossen." - Ob er auf der letzten Runde sogar mit Gold gerechnet habe? "Kurz hatt' ich gehofft, der Mann aus Frankreich ist im ersten Teil zu schnell gelaufen, aber da hab' ich mich tief geschnitten." - Ob er seine Medaille seinem Großvater widme, dem früherem Langläufer Axel Lesser? "Nee, beiden Opas. Der andere ist schon ziemlich alt, er hat immer gehofft, meine erste Olympiateilnahme noch zu erleben." - Wie alt? "93, glaub' ich."

Lesser passte nicht in das Bild des aufgeregten Podest-Debütanten. Nein, sagte er, er wisse nicht, welche und wie viele Verwandte und Freunde ihm schon gratuliert hätten, er wisse nur, dass in seiner Tasche die ganze Zeit über das Handy vibriere, er aber nicht dazu komme ranzugehen. Nach den Lauf-, Schieß- und Verwandtschaftsfragen ging es noch um die größere Bedeutung. Ob er sich im Klaren sei, was dieses Silber für die Medaillenbilanz bedeute? Da wurde Lesser plötzlich grundsätzlich.

"Kann man den Medaillenspiegel nicht verbieten?", fragte er. Es tue ihm leid, wenn er das so deutlich sagen müsse, aber diese Prognosen, Zwischen- und Endbilanzen störten die Athleten nur, von denen sich jeder, und er sagte das so deutlich, "den Arsch" aufreiße. "Diese Silbermedaille bedeutet in erster Linie was für mich", sagte Lesser, der Simon Schempp zum Beispiel könne sich davon nichts kaufen.

Mit dieser Betrachtung hatte er im Grunde natürlich recht, aber er ist ein zweites Mal an diesem Tag über das Ziel hinaus geschossen. Denn Schempp wurde nach passabler Leistung 16., Andreas Birnbacher 22. und Daniel Böhm sogar Zehnter. In der Logik der vom Sportdachverband DOSB befeuerten Kultur des Medaillenzählens wäre dies ein weiteres Beispiel für das neue Mittelmaß des deutschen Männer-Biathlons gewesen. Mit Lessers Silbermedaille aber erscheinen die Leistungen der drei anderen in einem neuen Licht. Sie haben sich ja tatsächlich insgesamt gesteigert.

Vor der zweiten Hälfte dieser Spiele, vor den Wettbewerben im Massenstart, der Mixed- und der Männerstaffel hat sich die Ausgangsposition, wohl auch bei den Frauen, nun verändert. Insgesamt hat Erik Lesser auf seiner ersten großen Pressekonferenz aber durchaus Recht gehabt. Er ging dann, in seiner Tasche vibrierte es weiter.

© SZ vom 14.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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